Agilolf Keßelring: Die Nordatlantische Allianz und Finnland 1949 bis 1961. Perzeptionsmuster und Politik im Kalten Krieg (= Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses; Bd. 8), München: Oldenbourg 2009, XVI + 350 S., ISBN 978-3-486-58804-0, EUR 39,80
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Finnland liegt zwar auf den ersten Blick an der eher unbedeutenden nördlichen Peripherie Europas, ist aber dennoch immer wieder Objekt geschichtswissenschaftlicher, insbesondere zeitgeschichtlicher Studien. Untersuchenswert ist es vor allem deshalb, weil es seit jeher ein Grenzland war - zwischen Russland bzw. der Sowjetunion auf der einen, Schweden, Mitteleuropa , später der NATO und der EU auf der anderen Seite. Nach dem Zweiten Weltkrieg vermochte Finnland seine Unabhängigkeit zu wahren und strebte eine außenpolitische Neutralität an, konnte sich im Gegensatz zu Schweden oder der Schweiz dem Tauziehen zwischen Ost und West um Einflusssphären jedoch nicht entziehen.
Die Dissertation von Agilolf Keßelring, die in der Reihe "Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses" des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes im Oldenbourg-Verlag erschienen ist, befasst sich mit genau diesem Tauziehen, wobei sie das Verhältnis zwischen Finnland und der NATO in der Zeit zwischen 1949 und 1961 in den Blick nimmt. Diese Periodisierung ist überaus schlüssig: 1949 wurde die NATO gegründet. Das Jahr 1961 bedeutete nicht nur im Hinblick auf die Berlinkrise, sondern auch finnlandspezifisch eine Zäsur. Finnland musste damals eine eigene, sogenannte Notenkrise mit der UdSSR durchstehen und erreichte mit der Assoziierung an die EFTA einen bedeutenden außenpolitischen Erfolg.
Konkret befragt Keßelring die einschlägigen britischen, deutschen, finnischen, amerikanischen Quellen sowie die der NATO nach der Wahrnehmung Finnlands sowie die daraus resultierende Finnlandpolitik der Allianz. Einen Schwerpunkt bilden dabei die finnischen Krisen 1958 (sogenannte Nachtfrostkrise) und 1961 (4). Dabei unterscheidet der Verfasser zwischen der Nordatlantischen Allianz als "Gemeinschaft der westlichen Staaten" (18) und der NATO als bloßer Vertragsorganisation. Die Allianz stelle "mehr als nur die Summe ihrer Teile dar" (19), sie habe vielmehr eine eigene Wahrnehmungskultur mit Rückwirkungen auf die Einzelstaaten entwickelt. Diese Beobachtung ist durchaus richtig. Allerdings lässt sich die Unterscheidung zwischen NATO und Nordatlantischer Allianz in der Untersuchung dann doch nur schwer nachvollziehen. Perzeption und Reaktion werden eher einzelstaatlich, meist am Beispiel der Bundesrepublik, Großbritanniens, der USA sowie der skandinavischen NATO-Mitglieder Dänemark und Norwegen, behandelt. Dies schmälert jedoch nicht den Wert der Untersuchung.
Neben Einleitung und Zusammenfassung besteht die 300-seitige Monografie aus vier Hauptkapiteln. Die ersten beiden stellen Einführungskapitel dar und behandeln die Entstehung und Entwicklung der NATO in den 1950er Jahren sowie die westliche Wahrnehmung Finnlands im Konfliktfeld konkurrierender Mächte zwischen 1700 und 1944. Die eigentlichen empirischen, jeweils ca. 100 Seiten umfassenden Kapitel teilen den Untersuchungszeitraum in zwei Phasen ein: von 1949 bis 1957 sowie von 1957 bis 1961. Dabei unterscheiden sich die beiden Kapitel im Ansatz. Das erste wirkt nicht bloß aufgrund der chronologischen Abfolge wie eine Art Hinführung auf das zweite, wo die Untersuchung gewissermaßen ihren Kulminationspunkt hat.
Zunächst wird mit der sowjetischen Bedrohung und einer Verortung Skandinaviens auf der geistigen Landkarte der NATO-Staaten der Rahmen für die Finnlandperzeption dargestellt. Dem schließt sich eine Schilderung der wichtigsten außenpolitischen Etappen Finnlands zwischen 1946 und 1957 sowie die Perzeption und Reaktion der westlichen Staaten bzw. der NATO an. Zuletzt arbeitet Keßelring vier in der NATO dominierende stereotype Finnlandbilder heraus, die im Folgekapitel zur Anwendung kommen. Diese Bilder beeinflussten die Finnlandperzeption und damit auch die Einschätzungen und Entscheidungen der NATO-Staaten (194). Finnland wurde demnach als "freiheitlicher Demokrat", "Antibolschewist" und "kleiner David" gesehen, der sich beharrlich und erfolgreich gegen den "sowjetischen Goliath" zur Wehr setzt. In Konkurrenz zu diesen positiven Bildern wurde Finnland auch als "Trojanisches Pferd", also als latente sowjetische Bedrohung wahrgenommen.
Im zweiten empirischen und zugleich stärksten Kapitel analysiert Keßelring vor allem die Nachtfrostkrise 1958 und die Notenkrise 1961 aus finnischer und nordatlantischer Perspektive. Beide legen wegen der zeitlichen Koinzidenz einen Zusammenhang mit der zweiten Berlinkrise nahe, waren jedoch primär finnisch-sowjetische Krisen. 1958 missbilligte die UdSSR die neue finnische Regierung und fror bis zur Regierungsumbildung die Beziehungen zu Finnland nahezu völlig ein. In der Notenkrise forderte die UdSSR militärische Konsultationen mit Finnland, die erst durch ein Treffen Präsident Kekkonens mit Chruschtschow in Wladiwostok abgewendet werden konnten.
Beide Krisen wurden in den NATO-Mitgliedstaaten aufmerksam verfolgt und innerhalb des Bündnisses erörtert, jedoch nicht als derart kritisch erachtet, dass konzertierte Sofortmaßnahmen ergriffen worden wären. Vielmehr war man sich einig, besonnen und deeskalierend zu reagieren. Vor allem während der Nachtfrostkrise wollte man alles vermeiden, was die UdSSR hätte provozieren und so die Krise unnötig verschärfen können. Zugleich sollte Finnland durch mittel- und langfristige Maßnahmen stärker an den Westen gebunden werden. Hierzu zählt Keßelring insbesondere die Assoziierung Finnlands an die EFTA, welche bereits in Reaktion auf die Nachtfrostkrise von britischer Seite erwogen und nach der Notenkrise mit Nachdruck und Erfolg betrieben wurde. "Für die Nordatlantische Allianz bildete die EFTA den neuen Rahmen für das 'Westbindungsprogramm' Finnlands." (288)
Zusammenfassend hält Keßelring fest, dass die Wahrnehmung Finnlands seitens der NATO stets an die Bedrohungsszenarien durch die Sowjetunion gekoppelt war und von der sowjetischen Skandinavienpolitik maßgeblich geprägt wurde (301). Die Befürchtungen, Finnland könne sich für den Westen als "Trojanisches Pferd" entpuppen, spielten dabei eine wichtige Rolle. Parallel vorherrschende positive Finnlandbilder waren hingegen dafür verantwortlich, dass die NATO Finnland nicht verloren gab, sondern in das permanente Tauziehen zwischen Ost und West einbezog. Im Vordergrund stand in beiden Krisen das Bild eines freiheitlich-demokratischen und genuin antikommunistischen Landes, welches sich nicht erst in den Nachkriegsjahren, sondern bereits während des Zweiten Weltkrieges erfolgreich gegen den östlichen Nachbarn zur Wehr gesetzt hatte.
Die Arbeit von Agilolf Keßelring ist flüssig geschrieben sowie methodisch und argumentativ überzeugend. Vorbetrachtungen, Vorgeschichte und Rahmenhandlung erscheinen im Verhältnis zum eigentlichen empirischen Teil zwar etwas lang geraten. Dennoch hat man stets den Eindruck, auf das eigentliche Thema hingeführt und vorbereitet zu werden. Insgesamt gelingt es Keßelring sehr gut, den Forschungsstand zur finnischen Außenpolitik sowie zur Politik der NATO gegenüber einem peripheren Land, das zugleich einer der Brennpunkte des Kalten Krieges war, zu vervollständigen.
Benjamin Gilde