Barbara Müller: Führung im Denken und Handeln Gregors des Grossen (= Studien und Texte zu Antike und Christentum; 57), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, X + 476 S., ISBN 978-3-16-149534-2, EUR 84,00
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In der modernen Forschung zu Papst Gregor dem Großen (590-604) sieht die Kirchenhistorikerin Barbara Müller das Bemühen um ein einheitliches Bild vorwalten, wie es durch Systematisierung der Denkansätze dieses Kirchenmannes oder aber durch bewusste Beschränkung auf Teilbereiche seiner Werke und damit seines Wirkens erreicht werden kann. Von derartigem Konsistenzdenken rückt Müller ab, indem sie sich für induktives Vorgehen entscheidet und so im Rahmen chronologisch-biographischer Orientierung den ganzen Gregor in den Blick nimmt, um zugleich der Vielseitigkeit und den Veränderungen im Denken und Handeln des Papstes gerecht zu werden. Auf diese Weise erarbeitet sie vor allem aus den Werken Gregors, literarischen Schriften ebenso wie dem Briefwechsel, die Anschauungen und die Handlungsweise des Papstes im Zusammenhang mit dem Thema der Führung (mittels der Ausübung von Macht, der Autorität, der Bestimmung des Verhältnisses von Vorgesetzten und Untergebenen). Damit geht Müller voreingenommenem Denken aus dem Weg und ordnet Gregors Ansichten mit Blick auf die Verbindungen zwischen Reflexion und Handlungen anwendungsbezogen - biographisch und politisch - ein, arbeitet also im besten Sinne historisch, wenn sie im Rahmen ihrer Fragestellung mit ganzheitlichem Anspruch Wechselbezüge zwischen Werk und Kirchenpolitik dieses Papstes erforscht.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bezieht Müller die Zeit vor der Wahl Gregors zum Papst mit ein, auch wenn sich über die etwa 50 Lebensjahre bis 590 bei weitem nicht so viel sagen lässt wie über die Zeit als Papst. Besondere Sorgfalt verwendet Müller auf die Darstellung der Bedeutung des Andreasklosters am clivus Scauri in Rom für Gregors spirituelle Ausrichtung; dabei sind kontemplative wie weltzugewandte Elemente und ein Patrozinium von Bedeutung, das im Bezug der Brüder Petrus und Andreas mit Blick nicht zuletzt auf Ostrom eine gesamtkirchliche Perspektive hervorhebt. Gregors Jahre als Apokrisiar in Konstantinopel (579-585) nutzt sie zur Vorstellung des im Osten von Gregor aufgebauten Kontaktgeflechts und findet hier "das ihn später kennzeichnende östlich anmutende Bischofsideal" (109) vorgeprägt, das ihn befähigte, eine monastische Ausrichtung mit aktiver, großkirchlich ausgerichteter Kirchenpolitik zu vereinbaren. Damit weist sie der Forschung einen Weg, der von der negativ anmutenden Bewertung seines Aufenthalts im Osten zu dessen Verknüpfung mit den späteren kirchenpolitischen Initiativen der Papstzeit führt.
Klangen schon im ersten Teil Gesichtspunkte an, die frühe Werke Gregors im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von Führung auswerten und mit aktuellen Lebensstationen verknüpfen, wie zum Beispiel das Thema der compunctio im Hohenlied-Kommentar oder das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa in den Hiob-Vorträgen, treten solche Aspekte mit der Behandlung der Jahre Gregors als Papst weiter in den Vordergrund und werden für Darlegungen zu seiner Biographie, inneren Haltung und Kirchenpolitik herangezogen, um ein wohlbegründetes, ganzheitliches und abgerundetes Bild zu erzeugen. Die Jahre des Papstes Gregor sind in drei Teilen behandelt: Papstwahl und früher Pontifikat (590-592), die Krisenzeit (592-594) mit einem Appendix über die letzten Jahre des 6. Jahrhunderts und die Spätzeit (600-604). Für diese Phasen werden jeweils signifikante literarische Werke Gregors und der entsprechende Teil des Briefwechsels im Sinne der Fragestellung ausgewertet.
In der Regula pastoralis und den Evangelien-Homilien, Hauptwerken Gregors aus der frühen Papstzeit, stellt Müller als wichtigste Adressaten das Führungspersonal heraus, an dessen Einstellung Gregor gelegen sei, um an diesen Kreis Aufgaben delegieren zu können. Der kirchenpolitische Hintergrund der in diesen Werken angesprochenen Fragen werde in Gregors Korrespondenz an der Bedeutung von Personalfragen und damit zusammenhängenden Sach- und Führungsproblemen illustriert. Im Bezug auf das aus diesen Werken und Äußerungen sprechende Selbstbild Gregors erkennt Müller sowohl die Attraktivität kontemplativ-monastischer Lebensweise für Gregor als auch die - zunächst vorsichtig - geltend gemachte Amtsautorität. Mit den hieraus erarbeiteten Grundsätzen, die ihn zu selbständigen politischen Maßnahmen, etwa gegen die Langobarden, führten, wandte sich Gregor auch an weltliche Machthaber.
In der "Krisenzeit" rückten politische Dimensionen im Denken und Handeln Gregors weiter in den Vordergrund; sie beeinflussten auch seine Optionen für die Kirche. Im Laufe dieses Zeitabschnitts traten Gregors Bemühungen um die kirchliche Einheit mehr und mehr hervor: Dies zeigte sich an seinem inzwischen nachsichtigen Umgang mit den Dreikapitel-Schismatikern, an seinem Eintreten zugunsten missionarischer Aktivitäten gegenüber Juden, Sektierern und Heiden, an der Öffnung gegenüber den Langobarden auf dem Weg über Kontakte zu deren Königin Theodelinda unter Inkaufnahme zunehmender Spannungen mit dem Osten. Recht eindrücklich illustriert Müller solcherart vorsichtige realpolitische Korrekturen Gregors an den Ezechiel-Homilien und den Dialogen, denen sie auf diese Weise elegant einen guten Platz in Gregors vielseitigem Werk zuzuweisen vermag. Sehr schön zeigt Müller hier auf, dass sich Gregors allgemeine Überlegungen im Rahmen seiner Schriften recht konkret in kirchenpolitischen Maßnahmen spiegeln, wie sie im Briefwechsel zum Ausdruck kommen. So scheinen in seinen Anschauungen vita activa und vita contemplativa keine unüberbrückbaren Gegensätze mehr zu sein, vielmehr inzwischen einander zu befruchten.
Diese Tendenzen setzten sich in den folgenden Jahren fort: Gregor band die fränkische Kirche enger ein, knüpfte Kontakte zu den fränkischen Herrschern und initiierte eine mehrgleisige Angelsachsenmission. Er stellte sich mehr und mehr politischen und damit auch weltlichen Aufgaben, wusste diese letztlich mit der spirituellen Leitungsfunktion zu vereinbaren: Für ihn bestand kein Widerspruch zwischen dem demütigen servus servorum Dei und dem selbstbewussten Dei consul, einem Begriff, in dem der Gedanke an die oberste Leitungsfunktion aus römischer Sicht in neue Zusammenhänge gestellt ist, ohne verbal die Belange des Kaisers zu tangieren.
Einfühlsam und geschickt entwickelt Barbara Müller aus den literarischen Werken und den Briefen Gregors des Großen am Beispiel seiner Anschauungen zum Thema der Führung ein modifiziertes Bild des am Übergang vom 6. zum 7. Jahrhundert amtierenden Papstes. Mit Hilfe der Historisierung Gregors wird sie seiner Vielseitigkeit und den Wandlungen in seinen Ansichten gerecht. Die allgemeine Bereitschaft hierzu in ihren diversen Facetten zu verschiedenen Zeiten aus den theologischen Schriften Gregors herausgearbeitet zu haben, verdient hohe Anerkennung, sie anhand vor allem der Korrespondenz mit dem (kirchen)politischen Tagesgeschäft anwendungsbezogen verknüpft zu haben und widerspruchsfrei einordnen zu können, nicht minder. So gewinnt man den Eindruck, dass Gregor seinem universalistischen Anspruch nicht mehr durch letztlich vergebliche Überzeugungsarbeit in Konstantinopel, sondern mit Hilfe innovativer Kirchenpolitik gegenüber dem Norden nachkommt. Er bereitet im "wachen Umgang mit den Anforderungen des Amtes in schwieriger Zeit" (427) an der Schwelle des Mittelalters die Umorientierung des Papsttums vor.
Ulrich Lambrecht