Rezension über:

Werner Bergmann / Ulrich Sieg (Hgg.): Antisemitische Geschichtsbilder (= Antisemitismus. Geschichte und Strukturen; Bd. 5), Essen: Klartext 2009, 264 S., ISBN 978-3-8375-0114-8, EUR 24,95
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Rezension von:
Siegfried Weichlein
Departement Historische Wissenschaften - Zeitgeschichte, Universität Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Siegfried Weichlein: Rezension von: Werner Bergmann / Ulrich Sieg (Hgg.): Antisemitische Geschichtsbilder, Essen: Klartext 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/16372.html


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Werner Bergmann / Ulrich Sieg (Hgg.): Antisemitische Geschichtsbilder

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Wie Vertreter anderer Ideologien auch, so plausibilisierten die Antisemiten ihre Weltsicht durch historische Argumente, durch ein Bild der Geschichte, ihrer Akteure und Abläufe, durch Geschichtsbilder. Geschichtsbilder spielten eine zentrale Rolle in der Popularisierung des Antisemitismus. Ein bekanntes Beispiel dafür waren die "Protokolle der Weisen von Zion", die historisch die Verschwörungsthese des Antisemitismus belegen sollten. [1] Wie stark die historische Begründung im Antisemitismus und später im Nationalsozialismus war und wie tief dies in ihre politische Praxis eingriff, zeigten ihre abstrusen Theorien über die biologische Herkunft des Wanderpredigers Jesus von Nazareth. Die Nationalsozialisten gingen hier besonders weit: der Geburtsfehler des Christentums lag für den NS-Ideologen Alfred Rosenberg in seinen jüdischen Ursprüngen. Hitler wurde nicht müde, von einer jüdisch-kommunistischen Gemeinsamkeit zu sprechen.

Der vorliegende Band, von den ausgewiesenen Antisemitismusexperten Werner Bergmann (Antisemitismuszentrum TU Berlin) und Ulrich Sieg (Universität Marburg) herausgegeben, geht den antisemitischen Geschichtsbildern, aber auch ihren Popularisierungen und den Akteuren nach. Der Band behandelt - mit einer Ausnahme - antisemitische Bestseller des Kaiserreiches, deren hohe Auflage eine entsprechende Wirkung sicherstellte. Bewusst haben die Autoren diese problematische Vorentscheidung getroffen: Geschichtsbilder werden anhand von antisemitischen "Klassikern" mit hoher Auflage untersucht. Die hohe Auflage freilich musste sich nicht immer entfalteten antisemitischen Geschichtsbildern verdanken. Klassiker waren diese Autoren zumeist, weil sie die scheinbar großen Fragen des jungen deutschen Nationalstaates beantworteten: Woher kommen wir und wer sind wir? Zu den "Klassikern des Antisemitismus" zu gehören, lief auf eine Mischung nationalistischer und antisemitischer Motive hinaus.

Die antisemitischen "Klassiker" sind Constantin Frantz, Wilhelm Marr, der Erfinder des Begriffs "Antisemitismus", Heinrich von Treitschke, Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritsch, Heinrich Claß und Alfred Rosenberg, der einzige Autor, der aus dem engeren zeitlichen Rahmen des Kaiserreiches heraus fällt.

Michael Dreyer (Jena) analysiert "Ahasverus oder die Judenfrage" des katholischen Föderalisten und Publizisten Constantin Frantz, bereits er ein "Außenseiter des Antisemitismus" (13). Wilhelm Marrs "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" untersucht Werner Bergmann. Eine durchgängige Referenzgröße für Nationalismus und Antisemitismus stellte Heinrich von Treitschkes "Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert" in vier Bänden dar, deren erster Band noch gar keine antisemitischen Ausfälle und Topoi enthielt. Treitschkes "Deutsche Geschichte" nimmt sich Ulrich Wyrwa (TU Berlin) vor. Einen festen Platz im antisemitischen Pantheon besaßen Paul de Lagardes "Deutsche Schriften", die der Mitherausgeber Ulrich Sieg (Marburg) vorstellt. [2] Ähnliches galt für Julius Langbehns "Rembrandt als Erzieher" (Johannes Heinßen) und Houston Stewarts Chamberlains Rassentheorie (Anja Lohenstein-Reichmann). Als Netzwerker und Propagandisten des modernen Antisemitismus porträtiert Elisabeth Albanis Theodor Fritsch. Im Vereinsnationalismus spielte der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes Heinrich Claß vor und nach 1914 eine zentrale Rolle. Seiner Geschichtspopularisierung wendet sich Rainer Hering zu. Nach 1918 schließlich und damit unter veränderten Rahmenbedingungen veröffentlichte Alfred Rosenberg sein Werk "Mythus des 20. Jahrhunderts", der Gegenstand für Miloslav Szabó. Abgerundet wird der Band mit einer Darstellung der Medialisierung des Antisemitismus (Andrea Hopp) und - am Schluss - einem Blick auf Bilder-Stereotype, die Michaela Haibl als "Visiotype" kategorisiert und vorstellt.

Die Stärke dieses Bandes liegt darin, die populärsten Autoren vorzustellen, die entweder dezidiert antisemitisch waren (Marr, Fritsch, Chamberlain, Rosenberg) oder immer wieder von Antisemiten beansprucht wurden, was vor allem für Treitschke galt. Der Band bietet eher "antisemitische Schlüsselwerke" (20) als die Analyse von antisemitischen Geschichtsbildern. Für den Band als Ganzes gilt immer noch die Rückfrage Reinhard Rürups auf der diesem Band zugrunde liegenden Tagung 2006: Was sind eigentlich antisemitische Geschichtsbilder, wo findet man sie und worin unterscheiden sie sich von anderen Geschichtsbildern, in denen Juden auch als pejorativ besetzte Akteure vorkommen? [3] Rürup regte damals an, antisemitische Geschichtsbilder konkreter zu fassen und sie von solchen zu unterscheiden, die zwar eine wichtige antisemitische Rezeption erfahren haben, aber keinen antisemitischen Fokus besitzen. Dafür kämen etwa Treitschke und Lagarde in Frage. Davon sollten Geschichtsbilder unterschieden werden, bei denen der Antisemitismus das Fundament darstellt und ein selbständiges Phänomen ist. Werner Bergmann und Ulrich Sieg tragen diesem Einwand in ihrer Einleitung zu diesem Band Rechnung, wenn sie den Anspruch, antisemitische Geschichtsbilder analysieren zu wollen, zurücknehmen. Bei Marr, Chamberlain, Fritsch und Rosenberg beobachten sie explizite antisemitische Geschichtsbilder, wohingegen Juden ihre negative Rollenzuschreibung bei Treitschke, Frantz und Claß mit einer ganzen Reihe anderer Reichsfeinde teilen, also keine selbständig tragenden Akteure im Geschichtsbild sind. "Eine zentrale Stellung kommt den Juden in diesen Entwürfen freilich nicht zu, so dass man eher von einem judenfeindlichen Strang in einem auf einen homogenen deutschen Nationalstaat zielenden Geschichtsverständnis sprechen kann als von einem geschlossenen 'antisemitischen Geschichtsbild'" (21), gestehen die Herausgeber zu. Dennoch haben sie auf dem plakativen Titel bestanden, den sie selbst in ihrer Einleitung massiv in Frage stellen.

Was bleibt an Erkenntnissen zu antisemitischen Geschichtsbildern? Bei explizit antisemitischen Autoren wie Wilhelm Marr und Chamberlain stehen die Juden im Mittelpunkt ihrer historischen Erzählung. Um sie dreht sich die Handlung. Hinzu kommt der eigenartig religiöse Grundzug dieser antisemitischen Geschichtsbilder, ihre Erzählung eines chiliastischen Kampfes zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Das deutet auf den Antisemitismus als eine moderne Form der Gnosis und ihrer manichäischen Geschichtsbilder hin. Hans Jonas hatte dies in seinen Gnosisstudien bereits beobachtet. [4] Doch von diesem Autor ist in diesem Buch nicht die Rede.


Anmerkungen:

[1] Vgl. dazu jetzt: Wolfgang Benz: Die Protokolle der Weisen von Zion: die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, München 2007; Jeffrey L. Sammons: Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Grundlage des modernen Antisemitismus - eine Fälschung; Text und Kommentar, Göttingen 1998.

[2] Vgl. auch Ulrich Sieg: Deutscher Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. http://www.sehepunkte.de/2009/07/16312.html

[3] Vgl. das Referat von Rürups Intervention im Tagungsbericht "Antisemitische Geschichtsbilder" 03.11.2006, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 28.11.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1377

[4] Vgl. die Neuauflage seiner Dissertation: Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Göttingen 1993 (1. Aufl. 1954) sowie: Harald Strohm: Die Gnosis und der Nationalsozialismus, Frankfurt 1997.

Siegfried Weichlein