Christian Ahrens: "Zu Gotha ist eine gute Kapelle...". Aus dem Innenleben einer thüringischen Hofkapelle des 18. Jahrhunderts (= Friedenstein-Forschungen; Bd. 4), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 374 S., ISBN 978-3-515-09236-4, EUR 64,00
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Zu den positiven Entwicklungen der Historiografie in den letzten Dezennien zählt zweifellos die vermehrte Beachtung und Wertschätzung für Fragen von Hofkultur-, Hofhaltung- und Residenzenforschung. Als zentrale Elemente jeder seriösen Beschäftigung mit so vielfältigen allgemeinen Kontexten wie etwa Zeremonial-, Repräsentations-, Sozial- und neuerdings Konsumgeschichte sind sie schlechterdings unerlässlich. Dass schließlich der Musik hierbei eine zentrale Rolle sowohl im Verständnis und Konzeption der Zeitgenossen wie auch in der wissenschaftlichen Reflexion unserer Tage zukommt, ist längst kein Arkanum mehr.
Umso erfreulicher ist es, im Rahmen dieser wenigen Zeilen das Erscheinen eines Bandes anzeigen zu können, welcher in vielerlei Hinsicht auf vorbildliche Weise jene oben knapp umrissenen interdisziplinären Verflechtungen der Hofforschung darlegt und anhand eines konkreten Beispieles analysiert. Schauplatz ist der Hof zu Gotha, näherhin dessen Hofkapelle im 18. Jahrhundert, wobei der Autor sich durchaus Ausflüge in die Folgegeschichte des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts erlaubt. Nun sind Hofkapellen und ihre Aufarbeitung, durchaus im Rahmen der eingangs aufgezeigten Entwicklung, glücklicherweise kein unbeackertes Feld der Forschung mehr. Es liegen mittlerweile maßgebliche, wiewohl zumeist musikwissenschaftlich beziehungsweise -historisch geprägte Studien vom 16. bis zum 19. Jahrhundert [1] vor, obgleich es einzelnen Kollegen auch gelang, immanente Verbindungen zu allgemein historischen Fragestellungen, von der Migrations- und Anstellungs- [2] bis zur Politikgeschichte [3], herzustellen.
Quasi zwischen den Ansätzen und Fakultäten bietet nun Christian Ahrens seine Studie zu Gotha dar, in welcher es ihm erstaunlich souverän gelingt, das Gleichgewicht zwischen "rein" musikhistorischen Aspekten und Phänomenen sowie jenen eines breiteren Ansatzes in Einklang zu bringen. Nach einer hilfreichen, dem Werk vorangestellten Überblicksauflistung der Herzöge von Sachsen-Gotha und Sachsen-Altenburg, deren Hofkapellmeister zwischen 1676 und 1805 sowie der Einleitung führt Ahrens den Leser mit einem Überblick über Bestand, Besetzung und historische Entwicklung der Gothaer Kapelle an sein Sujet heran, wobei den Bläsercorps von Trompetern und Oboisten sowie den ebenfalls der Hofmusik unterstehenden Kapellknaben besondere Aufmerksamkeit gewidmet ist. Es schließt sich eine summarische Darstellung der Kapellmeisterviten an, unter welchen dem allgemein Musikinteressierten allenfalls Gottfried Heinrich Stölzel [4] und Georg Benda geläufig sein dürften.
Richtiggehend spannend und illustrativ aber gestaltet sich der zweite Teil der Untersuchung, welcher unter der Generalüberschrift "Willkür und Fürsorge - Abhängigkeitsverhältnis der Musiker" die inneren Strukturen der Kapelle, von der Anstellung über die Ausbildung bis hin zur Pensionierung der Musiker, exemplarisch dokumentiert, dabei auch Sonderfälle (Gnadenerweise) berücksichtigt und das Ergebnis, immer streng an den Quellen argumentierend, anhand von Fallbeispielen gut belegen kann. Es wird daraus deutlich, wie weit die vordergründig entgegentretende vermeintliche Abhängigkeit der Musiker und ihre 'Ausnützung' durch den Fürsten (ein Vorurteil, welches für weite Teile der Hofforschung gerade älterer Prägung 'stilbildend' wurde) oft den tatsächlichen Gegebenheiten widersprach. In einem Falle kann der Verfasser doch belegen, wie sehr ein Musicus etwa "seine ökonomische Situation in schwärzesten Farben [malte], [er] überschätzte sein Können als Violinist und übertrieb die Zeitbelastung durch seine eigentliche Dienstverpflichtung maßlos, obschon er beträchtliche Zeit mit anderen Aktivitäten verbrachte und davon ausgehen mußte, daß die Hofverwaltung die Realität ebenso gut kannte wie er selbst." (121) Die allgemeine Frage, "wer letztlich der Gewinner war in einem Spiel, in dem jede Seite versuchte, sich einen Vorteil zu verschaffen" (129), beantwortet der Autor nachvollziehbar mit dem ausgewogenen Urteil, dass keiner der untersuchten Hofmusiker "darauf bauen konnte, daß er ähnliche Vergünstigungen und Unterstützungen bekommen würde wie sein Kollege", blieb doch in Zeiten eines Maßstab setzenden Individualismus das anachronistische Ideal der Gleichheit eine Utopie. Der Herzog als Arbeitgeber "mußte mit Lug und Trug, mit Renitenz und in Einzelfällen sicher auch mit Verweigerung oder gar krimineller Energie [der Bediensteten] rechnen. Ein solches Verhalten war in der Regel für ihn sicher weniger schmerzlich fühlbar als seine Entscheidungen es für die Untertanen sein mußten, aber unproblematisch war die Situation auch für ihn keineswegs." (129f.)
Ähnlichen Problemen interner Konfrontationsmöglichkeiten widmet sich sodann das anschließende Kapitel zu Rivalitäten unter den Musikern, bevor die sich anschließenden Seiten den musik- wie wirtschaftsgeschichtlich so interessanten und leider allzu oft unbeachteten Fragen nach Ankauf, Instandhaltung, Reparatur und Ergänzung der Instrumente wie der Besoldung auswärtiger (Gast-)Musiker nachgehen.
Einen gerade für die Geistes- und Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts zentralen Aspekt von Innovation und Rarität behandelt der folgende Abschnitt anhand der Dokumentation von neuen und seltenen Instrumenten. Hier treten dem Leser bekanntere (Waldhörner, Oboi d'amore und Klarinetten) ebenso entgegen wie unbekanntere (Verrillons und Serpente) oder gar Kuriosa (Gamben-, Lauten- und "Stahl-Claviere" sowie Pantalons).
Für die Frage nach der Bedeutung von Historizität und Erinnerungskultur in der Epoche ist des Weiteren die folgende Untersuchung zum zeitgenössischen Umgang sowohl mit Noten- als auch Instrumentenbestand erhellend, welche ja den gerade für Historiker zentralen Problemkomplex umfasst, was eine historische Epoche denn ihrerseits als 'alt' oder gar 'überlebt' empfand. In diesen Kontext gehört im weitesten Sinne auch die - zuvorderst, wiewohl nicht exklusiv anhand der Oboisten - aufgezeigte Entwicklung der Kapelle bis hin in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts, wobei der Verfasser nachdrücklich untermauern kann, dass und wie der von Burney konstatierte hohe Qualitätsstandard des Ensembles [5] über die Zeiten, nicht zuletzt dank einer konsequenten Einstellungspolitik seitens der Herzöge, gehalten werden konnte - ein Ergebnis, welches im abschließenden Vergleich mit anderen Einrichtungen der Zeit, darunter auch jenen der 'großen' Höfe etwa zu Dresden, Stuttgart und Mannheim, nur noch erhärtet wird. Eine umfangreiche, fünfzig Seiten umfassende Dokumentation aus Tabellen, Literatur- und Abbildungsverzeichnis, sowie Orts- und Personenregister rundet die Darlegung ab.
Es wurde aus dem Vorgesagten deutlich, welch breiter Horizont von Ansatz, Methodik und Interpretation dem hier anzuzeigenden Werke zugrunde liegt, vor allem aber auch, welch mannigfaltige Rückschlüsse, Ausblicke und innovative Perspektiven sich hieraus ergeben. Wiewohl der Verfasser keinen Hehl daraus macht - und seine bislang erschienenen Schriften weisen ihn diesbezüglich eindeutig aus -, dass er selbst von der Instrumentenkunde und -geschichte herkommt, so hat Christian Ahrens mit seiner Arbeit zur Gothaer Kapelle im 18. Jahrhundert dennoch ein Werk vorgelegt, das diesen engen Rahmen, ja das spezifisch Musikhistorische weit übersteigt. Darin liegen sowohl Bedeutung wie Stellenwert der Studie.
Natürlich verlangt der Band vom Leser ein gehöriges Maß an geistiger Flexibilität, was nicht zuletzt an der stets im gesamten Zeitraum, einschließlich Rück- und Ausblicken, geführten Argumentation liegt. Dies aber ist dem Verfasser kaum negativ anzurechnen, auch weitere Desiderata sucht man weitgehend vergebens (wenn man sie denn bewusst im Sinne einer gewissen Rezensionstradition "sucht"...). Schmerzlich vermisst man lediglich eine dem ausführlichen Literaturverzeichnis entsprechende Übersicht über die verwendeten Archivquellen, welche im Anmerkungsapparat durchgehend aufscheinen und als Beleggrundlage dienen.
Dieses winzige Manko aber kann in keiner Weise das überaus positive Gesamtbild einer schönen, wichtigen und - es sei nochmals gesagt - über weite Strecken exemplarischen Arbeit trüben, welche im gesamthistorischen Kontext auch so vermeintlich anders gelagerten personellen Institutionen etwa der Diplomatie-, Militär- oder Verwaltungsgeschichte als Anregung dienen könnte. Christian Ahrens hat mit seinem Band eine überzeugende, in Argumentation wie Stil und Sprachduktus klassisch-innovative Studie vorgelegt, in welche alle an den eingangs aufgeworfenen Themenkomplexen Interessierten mehr denn nur einen kurzen Blick werfen sollten und welches in keiner hierfür einschlägigen Bibliothek - also keineswegs nur jenen der Musikwissenschaftlichen Seminare - fehlen sollte.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu etwa für die letzten Jahre Theodor Göllner: Die Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext (Kongressbericht), München 2006; Günther Grünsteudel: Wallerstein - das schwäbische Mannheim. Text- und Bilddokumente zur Geschichte der Wallersteiner Hofkapelle (1745-1825), Nördlingen 2000; Christofer Schweisthal: Die Eichstätter Hofkapelle bis zu ihrer Auflösung 1802 - ein Beitrag zur Geschichte der Hofmusik an süddeutschen Residenzen, Tutzing 1997.
[2] Christoph Harer: Il Rosigniolo - Italiener in der hannoverschen Hofkapelle unter Herzog Johann Friedrich, Hannover 2008.
[3] Maria Richter: Hofmusik in Sachsen-Merseburg. Historische Zusammenhänge zwischen Musik und Politik am Beispiel der Hofkapelle, in: Fürsten ohne Land. Höfische Pracht in den sächsischen Sekundogenituren Weißenfels, Merseburg und Zeitz, hg. von Vinzenz Czech, Berlin 2009, 325-348.
[4] Zu Stölzel sei auf die ebenfalls von Christian Ahrens betreute Internetsite http://www.ruhr-uni-bochum.de/mielorth/stoelzel/ und ihre reichhaltigen Informationen verwiesen.
[5] Dieses, dem Buchtitel zugrunde liegende Zitat in: Charles Burney: Tagebuch einer musikalischen Reise..., Bd. 3, Hamburg 1772/1773, ND Kassel 1959, 256.
Josef Johannes Schmid