Karl Klaus Körner: Das Erbe der Serenissima. Rekonstruktion und Restaurierung eines venezianischen Linienschiffsmodells von 1794, Wien: Verlag Militaria 2010, 319 S., ISBN 978-3-902526-37-3, EUR 59,90
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Zugegebenermaßen - der Titel des hier anzuzeigenden Bandes liest sich prima vista nicht unbedingt so, als wäre er in der Lage, ein weites Interesse einer breiteren Leserschaft über den engen Kreis der speziell maritim Interessierten hinaus zu wecken. Schiffsrekonstruktionen und der damit oft unmittelbar assoziierte Modellbau mögen als Sonderdisziplinen sehr eigener Ausprägung zugleich allenfalls eine sehr beschränkte Randexistenz innerhalb der historiografischen Landschaft beziehungsweise Reflexion einnehmen. Allzu oft werden sie gerade von den "allgemeinen Historikern" doch eher als lediglich mit dem notdürftigen Kleidchen einer bemühten Wissenschaftlichkeit behangene Emanationen eines eitlen Hobbys, wenn nicht gar eines exzessiv ausgelebten Kindertraumes wahrgenommen.
Müsste ein Buch hinreichen, dieses - angesichts anderer sich "einschlägig" reklamierender Publikationen nicht immer ungerechtfertigte - Agglomerat von Vorurteilen zu widerlegen, so könnte dafür der hier anzuzeigende Titel von Karl Klaus Körner vollauf genügen. Denn das bloße Aufschlagen des Werkes offenbart, dass dem Leser hier viel mehr offeriert wird als reine Insiderinformationen an die Adresse einer mehr oder weniger hermetisch geschlossenen Zielgruppe. Weit über die im Untertitel bescheiden anklingende Einschränkung auf die Rekonstruktion eines einzelnen Linienschiffes hinaus bietet der Band eine umfassende Einsicht in das maritime Leben der letzten 150 Jahre venezianisch-republikanischer Existenz - einer Zeit also, welche, abgesehen von einer vielversprechenden Studie von vor über 70 Jahren [1] das Schicksal der gesamten venezianischen Geschichte des Settecento teilt, die seit der quasi kanonischen Qualifikation durch Molmenti durchweg nur noch als 'Dekadenz' apostrophiert wird. [2]
Umso wertvoller erscheint das Schließen wesentlicher Lücken der Seefahrtsgeschichte der Zeit. Dies ist in erster Linie dem breiten Ansatz des Verfassers zu verdanken, welcher sich - es wurde bereits erwähnt - keineswegs auf technische Details beschränkt. Vielmehr erhält der Leser zunächst einen grundlegenden Überblick über die Schifffahrtsentwicklung Venedigs von 1660 bis 1797, wobei neben Planung, Einsatzgeschichte und Bauspezifika auch die zeitgenössischen historischen Grundlagen (Politik, Strategie, Diplomatie) ausführlich Berücksichtigung finden.
Ein zweiter Abschnitt widmet sich, auch in der Terminologie deutlich an Furttenbach [3] und Chapman [4] angelehnt, der Architectura Navalis Veneziana, wobei man klassisch-neulateinisch besser "venetiana" oder "veneta" gesetzt hätte. Hier überwiegen natürlich technische Informationen, doch können jene durchaus im Sinne eines Beitrages zur Konsumgeschichte der besonderen Art gezählt werden - ein kulturhistorischer Aspekt, welcher nicht zuletzt durch die hervorragende Ausstattung an historischen Bildquellen unterstrichen wird.
Den ersten Teil der Darstellung beschließt sodann die Präsentation des vom Autor nach alten Plänen und archivalischen Hinweisen restaurierten und neu ergänzten historischen Modells eines Linienschiffes erster Klasse aus den letzten Jahrzehnten der Republik. Die, wiederum auf eine zum Teil atemberaubend perfekt gelungene Bild- sowie minutiös und kenntnisreich verarbeitete Quellendokumentation gestützte Vorstellung gewährt Einblicke in die Materie, welche nicht nur weit über reines Fachwissen hinausreichen, sondern zudem anderweitig - das heißt mit einem anderen Forschungsansatz - schwer zu erzielen wären.
Doch wäre das Erscheinen des Bandes in deutscher Sprache und im Rahmen der Publikationen des Heeresgeschichtlichen Museums Wien schwer zu erklären, endete dieser hier. So unternimmt es Körner in einem letzten Hauptteil, einerseits das weitere Schicksal der venezianischen Flotte nach 1797 nachzuzeichnen, wie auch anhand der drei 1799 bei Ancona von den Franzosen erbeuteten Linienschiffe einen intimen Einblick in jene maritimen Welten zu geben, welche dann der Kern der neuen K.K.-Flotte werden sollten.
Ein reicher Dokumentationsanhang aus Anmerkungen, Quellen-, Literatur- und Abbildungsverzeichnis, einem ausführlichen Register sowie einem gerade Nichtfachleuten überaus willkommenen Glossar schiffbautechnischer Fachbegriffe rundet die Ausführungen nicht nur ab, sondern legt ein beredtes Zeugnis davon ab, welche immense Detailstudienarbeit diesen zugrunde liegt. Dieser letzte Gesichtspunkt wird noch weiter untermauert durch die dem gemeinsamen Schuber ebenfalls beiliegenden exakten Konstruktionspläne des im Modell rekonstruierten Linienschiffes. Hier nun vermag der Fachmann, sei er Technik- beziehungsweise Marinehistoriker, oder nur einfach am historischen Modell Interessierter gleichsam den Bild gewordenen Anmerkungsapparat des Textbandes nachzuvollziehen.
Mit dem vorliegenden Buch ist es Karl Klaus Körner zweifellos gelungen, ein ebenso klassisches wie innovatives Werk besonderen Zuschnitts zu präsentieren. Klassisch insoweit, als er sich damit in eine hauptsächlich im frankophonen [5] und angelsächsischen [6] Kulturkreis etablierte Fachrichtung der kultur- und politikhistorisch orientierten Schiffsbiografik einreiht und diese um einen bislang völlig unbeachteten geografischen Raum erweitert. Innovativcharakter aber vermag nicht nur die nunmehr erschöpfend behandelte venezianische Seekriegs- und Flottengeschichte des 17./18. Jahrhunderts zu beanspruchen, sondern vor allem auch der methodische Ansatz zwischen archivarischer, rekonstruktiver und experimenteller Reflexion. Die hier aufgezeigten Perspektiven weisen weit über das Sujet im engeren Sinne, ja über die Marine- und Militärgeschichte insgesamt hinaus [7], weswegen - aber nicht allein deshalb - dem Werk eine weite Verbreitung dringend anzuwünschen ist.
Von diesem Wunsche lenken auch geringfügige Erweiterungs- oder Ergänzungsvorschläge nicht ab, die natürlich - welche Publikation ist schon erschöpfend? - auch hier vorgebracht werden könnten, so etwa ein etwas stärkeres Eingehen auf Grundlagen und Aspekte zeitverwandter Marinen gerade des Mittelmeerraumes beziehungsweise auf andere internationale Modellsammlungen und deren wissenschaftliche Relevanz für die vorliegende Arbeit. Doch dies sind Marginalien vor dem Hintergrund einer mehr denn überzeugenden Gesamtleistung. Karl Klaus Körner ist es nicht nur gelungen, sein vermeintlich auf einen engen Raum beschränktes Sujet umfassend und überzeugend darzustellen; vielmehr hat er, durch verständliche Sprache sowie angenehmen Schreibstil befördert, ein Werk geliefert, welches in seinem Facettenreichtum spezifische Ansprüche und methodische Erwartungen eines Kultur- wie auch Marine-/Militär- oder Politikhistorikers ebenso erfüllen kann wie jene eines einfach an der Materie Interessierten, bis hin zum Modellbauer.
Es wäre zu wünschen, dass der Band nicht nur in mehrere Sprachen übersetzt würde, sondern eventuell auch ein zweiter zur allgemeinen Geschichte der venezianischen Marine des Settecento folgte, welcher dann, auf den vorliegenden Ergebnissen aufbauend, alle sozialen, hierarchischen, und alltagsgeschichtlichen Aspekte berücksichtigen sollte. Durch sein Referenzwerk hat Karl Klaus Körner unter Beweis gestellt, dass er hierfür zurzeit unleugbar der geeignete Bearbeiter wäre.
Anmerkungen:
[1] Mario Nani Mocenigo: Storia della marina veneziana da Lepanto alla caduta della Repubblica, Roma 1935, ND Venezia 1985.
[2] In der ersten Sozialgeschichte Venedigs, Pompeo G. Molmenti: La storia di Venezia nella vita privata, 3 Bde., Trieste 1978 (Orig. 1928), wurde diese Zeit schlicht als 'Dekadenz' bezeichnet, der zwar immerhin einer von drei Gesamtbänden gewidmet war, doch blieb die Wertung. In der modernen klassischen Gesamtdarstellung von Frederic C. Lane: Seerepublik Venedig, München 1980 (Orig.: Venice. A Maritime Republic, Baltimore 1973) entfallen auf das 17./18. Jahrhundert zusammen lediglich 60 von insgesamt 743 Textseiten, wiewohl hier die maritime Neuausrichtung durchaus gewürdigt wird.
[3] Joseph Furttenbach: Architectura Navalis..., Ulm 1629.
[4] Fredrik Henrik af Chapman: Architectura Navalis Mercatoria, Stockholm 1768 (zugänglich unter: http://covax.bth.se/chapmanprojekt/index.html); vgl. Daniel Gibson Harris: F. H. Chapman. The First Naval Architect and his Work, Annapolis 1989.
[5] Siehe etwa die Maßstab setzenden Werke von Jean Boudriot: Les vaisseaux de 74 à 120 canons - étude historique 1650-1850, Paris 1995; ders.: Historique de la corvette, 1650-1850 (Collection archéologie navale française 14), Paris 1990; ders.: Le vaisseau de 74 canons, traité pratique d'art naval (Collection archéologie navale française 1/1-4), 4 Bde., Grenoble 1973-77 (engl. The Seventy-four Gun Ship. A Practical Treatise on the Art of Naval Architecture, 4 Bde., Paris 1986-1988).
[6] Vor allem die einzelnen Bände der Reihe "Anatomy of the Ship": Karl Heinz Marquardt: The 44-Gun Frigate USS Constitution. "Old Ironsides", London/Annapolis 2005; Brian Lavery: 74-Gun Ship Bellona, London 22003; John Mckay, 100-Gun Ship Victory, London 22000. - Daneben das Vorläuferwerk: G. Nepean Longridge: Anatomy of Nelson's Ships, Swanley 31999 (1. Aufl. 1955).
[7] Eine interessante interdisziplinäre Erweiterung hin zur Alltags- und Ernährungsgeschichte ebenfalls im maritimen Kontext bietet das originelle und informationsreiche Werk von: Janet MacDonald: Feeding Nelson's Navy. The True Story of Food at Sea in the Georgian Era, Annapolis 2006.
Josef Johannes Schmid