Stefan Neuner: Maskierung der Malerei. Jasper Johns nach Willem de Kooning, München: Wilhelm Fink 2008, 382 S., ISBN 978-3-7705-4667-1, EUR 49,90
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"Is it a flag, or is it a painting?" - die Artikulation einer ontologischen Differenz, die Frage, ob es sich um einen objekthaften Alltagsgegenstand oder um ein ästhetisch kalkuliertes Kunstobjekt handelt, überschreibt den bekannten Aufsatz Max Imdahls zu Jasper Johns berühmten Flaggenbild von 1954/55. [1] Imdahl stellte das frühe Hauptwerk in den Gesamtzusammenhang der konkreten Kunst seit Theo van Doesburgs grundlegender Definition im Jahr 1930 sowie Kandinskys "großer Realistik" von 1911/12. Dabei sprach er dem Gemälde paradigmatische Bedeutung zu, wenn es ihm zum "Interferenzfall von Wirklichkeit und Kunst im Sinne der konkreten Kunst" wurde. [2] Stefan Neuner hat sich in seiner von Friedrich Teja Bach betreuten Dissertation - nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer irritierenden persönlichen Erfahrung mit einer Version der Flaggenbilder - mit Johns in einer theoretisch anspruchsvoll angelegten monografischen Studie auseinandergesetzt. Dabei spielt Willem de Kooning in der Argumentation die entscheidende, kontrastierende Rolle, lotet Neuner doch die Beziehung zwischen dem Hauptvertreter des Abstrakten Expressionismus und dem zukünftigen Protagonisten einer Neo-Avantgarde und vermeintlichem Vorläufer der Pop Art genauer als bisher aus, ohne aber den dadurch benannten Antagonismus einfach fortzuschreiben.
Neuners Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass er genau recherchiert und die Rezeptionsgeschichte der frühen Malerei Johns detailliert aufgearbeitet hat. Dabei fällt ihm von vornherein eine ambivalente Rezeption des Malers auf, der zum einen als Erneuerer des Mitte der 1950er-Jahre in die Krise kommenden Abstrakten Expressionismus begrüßt werden konnte (vgl. 73), bei dem zum anderen aber ein fundamentaler Bruch mit der vorherrschenden Kunstrichtung konzediert wurde. Diese sich scheinbar widersprechende Rezeption erweist sich als fruchtbarer Ausgangspunkt, um genauer auf die ästhetische Struktur der Werke von Johns zu schauen, wobei Neuner geschickt auf wichtige, in Deutschland aber bislang zu wenig bekannte Vorstudien - wie den Schriften Richards Shiffs - aufbaut. Genau hier, in der immanenten Struktur der ästhetischen Verfasstheit der Arbeiten, findet Neuner eine Erklärung für die geschilderte kontradiktorische Rezeption, denn der Bruch ist im Bild selbst aufzuweisen, in seiner "gespaltenen und selbstkontradiktorischen Fügung", wie er es nennt (14).
Von zentraler Bedeutung für das vorgelegte Buch ist die Adaption von Harold Blooms einflussreicher These der "Einflußangst", der sich Neuner auch angesichts seiner vorgenommenen aktualisierenden und erweiternden Modifikationen sehr verpflichtet weiß. Bloom, der gerade 80 Jahre alt geworden und für seine Rede vom Kanon berühmt-berüchtigt ist, hatte 1973 und 1975 dargelegt, wie Schriftsteller/Künstler in ihrem Bemühen um eine erkennbare Spezifizität oder Originalität das Werk Ihrer Vorbilder verzerren und entstellen. Gleichwohl besteht die Möglichkeit Vorbild und Nachbild interpretierend wechselseitig aufeinander zu beziehen und dabei auch zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich der "Väter" zu kommen. Neuner rekurriert immer wieder auf den Ansatz Blooms und wendet ihn insgesamt überzeugend, mitunter brillant, manchmal aber auch etwas exzessiv an, etwa wenn er sich zum Verhältnis von Ludwig van Beethoven und Gustav Mahler (60f.) auslässt. Die Schlussbetrachtungen zum Verhältnis zwischen Johns und seinem radikalen "Schüler" Frank Stella verdeutlichen unter der Überschrift "Jasper's Dilemma?" die prekäre Stellung, die Johns zwischen Abstraktem Expressionismus und Minimal Art einnahm und sind äußerst erhellend. Neuner gelingt es dabei auch anzudeuten, wie Johns sich aus der eigenen, allzu frühen "Vaterrolle" mit einem neuen, äußerst reflektierten Bildkonzept zu befreien versuchte, dessen Intellektualität - "die Auflösung eines komplizierten Rätsels" adressiert als Aufgabe nur noch einen kleinen Kreis Eingeweihter (330) - vielleicht höher zu veranschlagen ist, als sein malerisches Ergebnis.
Die Rede von der Maskierung im Titel der Studie betrifft fundamental die spezifische Faktur der Bilder Johns, der in aufwendigen Enkaustikverfahren den gleichzeitig wach gehaltenen spontanen Farbauftrag gleichsam gerinnen lässt, einfriert. Zusammen mit den vorformulierten Bildgegenständen Flagge, Zielscheibe, Alphabet und Zahlenreihe ergibt sich das paradoxe Bild eines unpersönlichen Figurenschemas und einer handwerklich sorgfältig angelegten, gleichwohl toten Textur, die doch kritischer Reflex der All-Over-Strukturen und Gestenmalerei der Abstrakten Expressionisten sind. Dabei invertiert Johns die zeitgleichen Bemühungen de Koonings, der freilich - wohl nicht zuletzt aufgrund des von Neuner nicht thematisierten europäischen Hintergrundes und der Bezugnahme auf Picasso - selbst auf Verfahren zurückgriff, die den seinerzeit hochgehaltenen Mythos immer wieder ursprünglichen Beginnens vor leerer Leinwand beständig dementierten (vgl. 58f.). Auch die Ausführungen zur "Gesichtlichkeit" der Malerei de Koonings, exemplifiziert an Hauptwerken seit 1948 und der berühmten Women-Serie sowie der Weiterschreibung des Themas bei Johns, fasziniert (vgl. Kapitel III und IV).
Stefan Neuner ist mit der vorgelegten Studie zum frühen Johns ein anspruchsvoller und genuiner Beitrag zur Geschichte der amerikanischen Kunst nach 1945 gelungen, der hinsichtlich der Genauigkeit der Bildanalyse sowie in methodischer Avanciertheit Vorbildcharakter besitzt. Man erfährt dabei nicht grundsätzlich Neues auf der Ebene der Fakten - hier folgt der Autor der umfangreichen Literatur und das ist auch gar nicht Ziel seiner Forschungen gewesen -, aber man vermag sehr viel genauer und ausdauernder hinzuschauen, de Kooning (ja auch und vielleicht vor allem ihn) und Johns in ihrer Individualität präziser zu fassen und das Phänomen eines ästhetischen Paradigmenwechsels, der aufgrund einer spezifischen historischen Konstellation keinen absoluten Bruch darstellen muss, mit Hilfe der Literaturwissenschaft intensiver zu durchdenken. Eine mehrmalige Lektüre des Buches, dessen Potential sich sukzessive erschließen muss, ist in der Tat angezeigt. [3] Dabei ist der Hinweis auf die möglicherweise begrenzte Reichweite des Ansatzes im Kopf zu behalten: "Allein daher [Johns' Bezogenheit auf den Abstrakten Expressionismus, O.P.] kann es nicht gelingen, Johns zu einem 'Kritiker' des Abstrakten Expressionismus zu erklären. Es ist vielleicht der letzte Moment innerhalb der Entwicklungsgeschichte der amerikanischen Neo-Avantgarde, in der die Logik der anxiety of influence noch im vollen Sinne wirksam ist." (265)
Anmerkungen:
[1] Max Imdahl: "Is it a Flag, or is it a Painting?" Über mögliche Konsequenzen der konkreten Kunst (1996), in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 1. Zur Kunst der Moderne, hg. und eingeleitet von Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, 131-180.
[2] Ebd.,155.
[3] Da schließe ich mich Gabriel Hubmanns Rezension im Journal für Kunstgeschichte 13 (2009), H. 2, 128-131 an.
Olaf Peters