Dominik Schnetzer: Bergbild und geistige Landesverteidigung. Die visuelle Inszenierung der Alpen im massenmedialen Ensemble der modernen Schweiz, Zürich: Chronos Verlag 2009, 464 S., ISBN 978-3-0340-0975-1, EUR 50,00
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In den letzten beiden Jahrzehnten wurde der Ruf nach einem Iconic Turn oder Pictorial Turn in den Kulturwissenschaften laut. Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Bildern und deren offensichtlichem Einfluss auf die Konstruktion der Lebenswelten sei es vordringlich, die Vorherrschaft des Sprachlichen in den Kulturwissenschaften aufzubrechen und den visuellen Medien den ihnen gebührenden Platz in der kulturwissenschaftlichen Analyse einzuräumen. In den Geschichtswissenschaften wurde mit guten Argumenten dargelegt, dass eine stärkere Beachtung visueller Quellen jenseits der Traditionen der Kunstgeschichte gerade für die neuesten Epochen Not tue. Eine solche Erweiterung der Quellenbasis zu fordern ist aber eine Sache, die Umsetzung dieser Forderung in ein tragfähiges Forschungsprogramm nochmals eine andere. In dieser Hinsicht ist die hier anzuzeigende Zürcher Dissertation von Dominik Schnetzer sehr zu begrüssen. Ihre Lektüre wird all jenen empfohlen, die sich dafür interessieren, wie moderne visuelle Medien historisch fruchtbar gemacht werden können.
Thematisch konzentriert sich Schnetzer darauf, wie die Alpen in der Schweiz der Zwischenkriegszeit in zwei von den Geschichtswissenschaften bislang wenig bearbeiteten Leitmedien der Moderne visuell inszeniert wurden: in den schweizerischen Illustrierten und im heimischen Filmschaffen. Aus letzterem zieht Schnetzer auch die Eingrenzung seines Untersuchungszeitraums auf die Jahre 1917 bis 1938. 1917 erschien der erste schweizerische Spielfilm "Der Bergführer", während 1938 "Füsilier Wipf" zum bis heute unübertroffenen Kassenschlager in den Schweizer Kinos avancierte. Fast unglaubliche 1,2 Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, strömten in die Kinosäle, um sich die zur Zeit des Ersten Weltkriegs angesiedelte Geschichte des städtischen Frisörs Reinhold Wipf anzusehen, der im Militärdienst auf dem (voralpinen) Lande zu seinen bäuerlichen Wurzeln zurückfindet. 1938 war zudem das Jahr, in der die Schweizerische Landesregierung in einer sogenannten Kulturbotschaft die "Geistige Landesverteidigung" zum Teil des schweizerischen Abwehrdispositivs gegen Außen machte. Während die militärische Aufrüstung darauf abzielte, im Kriegsfall das nationale Territorium behaupten zu können, sollte die "Geistige Landesverteidigung" mithelfen, durch alle Zeiten eine "schweizerische Eigenart" zu bewahren, die laut jener Kulturbotschaft vorwiegend im alpinen Boden und einer langen gemeinsamen Geschichte verankert war. Dies war eine ausgesprochen rückwärtsgewandte Leseart der schweizerischen Nation als Gotthardstaat, welche die agrarisch geprägten, mehrheitlich katholischen Berggebiete ins Zentrum rückte und die republikanischen Errungenschaften des Bundesstaates ebenso ausblendete wie die urbane Lebenswirklichkeit der Bevölkerungsmehrheit des schweizerischen Mittellandes. Im Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus wurden die Alpen zum militärischen und mentalen Verteidigungswall der Schweiz, obwohl sich die Geographie einer solchen Vereinnahmung nur schlecht fügte, zogen sich die Bergketten doch nicht den Rändern des Landes entlang, sondern türmten sich in deren Mitte auf. Die Verteidigung war daher nur plausibel zu machen, indem die Schweiz auf ihre alpine Mitte reduziert wurde, militärisch und "geistig".
Genau dieser Konnex zwischen konservativem Diskurs über die Nation und populären visuellen Inszenierungen dieser Nation in Bergbildern, sowie dessen Entstehung, Verbreitung und Verfestigung stehen im Zentrum von Schnetzers Erkenntnisinteresse. Die These lautet, dass die neuen Massenmedien Illustrierte und Film in ihren bildgestützten Bergnarrativen die bürgerlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts, wie sie in der Literatur, der Malerei und im Alpinismus ausgebildet wurden, aufgenommen und fortgeführt haben. Unter zunehmend patriotischen Vorzeichen habe über diese Medien eine Popularisierung und Standardisierung der visuellen Inszenierungen stattgefunden, die eine Diffusion bürgerlicher Sehgewohnheiten in breite gesellschaftliche Schichten begleitete. Lehnten die bürgerlichen Eliten die populären Massenmedien anfänglich ab und verteufelten insbesondere den Film geradezu, setzte in den 1930er Jahren ein Umdenken ein. Zur Behauptung der eigenen Meinungsführerschaft wurde nun einer Instrumentalisierung dieser Medien das Wort geredet. Wieso sich hier gerade eine (katholisch-)konservative Elite so effektiv in Szene setzen konnte, wird in Schnetzers Ausführungen nicht ganz klar. Waren es mehr oder weniger zufällige personelle Konstellationen, die Exponenten jener Elite in den entscheidenden Jahren Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft einnehmen ließ oder hatte sich der liberale schweizerische Bundesstaat mit der Förderung eines Nationalismus, der Geschichte und Boden als gemeinsame Grundlage des Schweizertums bemühte, auf lange Sicht hinaus in die Geiselhaft jener wirtschaftlich und zunächst auch bundespolitisch peripheren Gegenden begeben, in denen diese Nationalgeschichte angesiedelt war?
Schnetzers Arbeit geht in drei Schritten vor. In einem der Einleitung folgenden, kurzen Kapitel ordnet er die eigene Untersuchung in die "massenmediale Sattelzeit" (Habbo Knoch und Daniel Morat) ein. Daraufhin folgt ein äußerst instruktives Kapitel, in dem Schnetzer ausführlich darlegt, wie er die Bergbilder seiner Quellen einer historischen Analyse zuführt. Diesen Vorarbeiten schließen sich drei chronologisch geordnete Kapitel an, in denen er das Instrumentarium systematisch auf die Bilderproduktion in Illustrierten und Filmen anwendet. In seiner Darstellung bleibt Schnetzer nahe an den Quellen, die er sorgfältig interpretiert und kontextualisiert. Geschickt webt er zeitgenössische Medienbetrachtungen, etwa von Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, in seine Untersuchung ein und reflektiert die Ergebnisse im Rahmen der Medien-, aber auch der Raumforschung. Hierbei rekurriert er insbesondere auf Michel Foucaults Idee des Heterotops, um die Konstruktion der Alpen als einen der Moderne zugleich entgegen-gesetzten wie mit ihr verbundenen Raum sichtbar zu machen.
Schnetzers Arbeit ist flüssig geschrieben und man lässt sich vom Autor gerne von Quelle zu Quelle führen, von einer Illustrierten zu einem Spielfilm, von dort zur Wochenschau und wieder zurück zu einer Illustrierten, wobei hervorzuheben ist, dass Schnetzer in seinem Gang durch die Zwischenkriegszeit sowohl die deutschsprachige als auch die französisch- und italienischsprachige Produktion berücksichtigt. Mit der Zeit beschleicht einen allerdings eine Ahnung, selbst in einem jener (Stumm-)Filme zu sitzen, die Schnetzer so kompetent referiert, und die den Zuschauer durch die Einschaltung von Zwischentiteln von einer Sequenz zur nächsten leiten. In diesen Momenten wird das Fehlen einer Leserführung spürbar, die nicht nur überleitet, sondern die Gesamtkonzeption der Arbeit, ihre Gliederung in Kapitel und Teile, darlegt. Ein weiteres Manko ist das Fehlen eines Indexes (etwa von Personen und Orten), der einen interessanten zusätzlichen Zugang zum Stoff ermöglicht hätte. Thematisch und qualitativ adäquat sind hingegen die rund 300 graphischen Reproduktionen, Fotografien aus Illustrierten und Screenshots aus Filmen, welche die sprachlichen Ausführungen ergänzen und stützen.
Patrick Kupper