Sven Oliver Müller / Philipp Ther / Jutta Toelle u.a. (Hgg.): Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters in Europa (= Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 5), München: Oldenbourg 2010, 331 S., ISBN 978-3-486-59236-8, EUR 39,80
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Lange Zeit schien die Oper als kulturelle Praxis fast ausschließlich ein Studienobjekt der Musikwissenschaften zu sein und stand dort vorwiegend aus der künstlerischen Sicht im Fokus. Historiker hingegen interessierten sich vor allem für die institutionelle Seite des Opernbetriebs und betteten diese meist untergeordnet in größere kulturinstitutionelle Bezugsrahmen einer Epoche oder eines geographischen Zusammenhangs ein. In den letzten Jahren hingegen treten mehr und mehr Forschungsansätze in den Vordergrund, die sich an der Schnittmenge zwischen Musik- und Geschichtswissenschaft bewegen und auf die sozialhistorische Bedeutung der Oper (und auch des Theaters) hinweisen.
Der vorliegende Sammelband ist für diese Neuausrichtung ein Beispiel. Die darin enthaltenen Aufsätze, so heißt es im Vorwort der Herausgeber, seien als eine Ergebnisdarstellung zu verstehen, die "die Geschichte des Musiktheaters als einem wesentlichen Element der europäischen Sozial- und Kulturgeschichte in verschiedenen Teilen des Kontinents miteinander [...] verknüpfen" (11). Dabei formulieren die Herausgeber zentrale Fragestellungen, von denen ausgehend die Aufsätze in die vier Teile des Buches eingeordnet werden. Warum Menschen die Oper besuchten, welche soziale Reichweite diese umfasste und vor welchem gesellschaftlichen und nationalen Hintergrund das Hörverhalten des Publikums zu betrachten sei, wird im 1. Teil: "Das Publikum der Oper", behandelt. Die urbane Repräsentationsfunktion der Oper steht im Mittelpunkt der Betrachtungen von Teil 2: "Die Oper und die moderne Metropole". Die Aufsätze des 3. Teils: "Oper als Quelle der Geschichte", untersuchen die Musik in ihrem Aufführungskontext, um so den Nutzen der Opernpraxis als historische Quelle deutlich zu machen. In welcher Form und mit welchen Voraussetzungen Oper in Übersee und im Nahen Osten inszeniert wurde, steht im Mittelpunkt des vierten Teils: "Die 'cultural map' des europäischen Musiktheaters".
So deutlich, wie es die Gliederung des Bandes vermuten lassen könnte, grenzen sich indes die einzelnen Beiträge nicht voneinander ab. Vielmehr finden sich in ihnen immer wieder auch Exkurse und Verbindungen zu den Fragestellungen der anderen Abschnitte des Buches. Die Aufsätze selbst sind häufig von recht unterschiedlicher Herangehensweise und Umfang ihres Untersuchungsfeldes geprägt. Mal stehen Operninstitutionen, mal Opern als Kunstwerke im Mittelpunkt der Betrachtung; teilweise fehlt manchen Beiträgen die Einordnung in den jeweiligen gesamthistorischen Kontext, die für das bessere Nachvollziehen der Argumentation hilfreich gewesen wäre. Auch erschließt sich dem Leser nicht immer der Bezug zur spezifischen Fragestellung des Bandabschnitts, in dem der Aufsatz sich befindet.
Interessant ist es dann aber doch, dass der Band - trotz der sich sehr unterscheidenden Beiträge - dem Leser ein relativ geschlossenes Bild der gesellschaftlichen Bedeutung der Oper im 19. und 20. Jahrhundert vermittelt. Das in fast allen Aufsätzen anklingende und insgesamt am deutlichsten hervortretende Ergebnis betrifft das Verhältnis von Nationalismus und Opernkunst. Politische Eliten waren im 19. Jahrhundert bemüht, ihren Einfluss auf den Spielplan und die Form der Inszenierungen der jeweiligen europäischen (und später auch außereuropäischen) Opern zu erweitern. Besonders intensiv wurde der Diskurs um den "nationalen" Auftrag des Musiktheaters im 19. Jahrhundert geführt, als erwachender Nationalismus den Ruf nach kultureller Eigenständigkeit und Abgrenzung laut werden ließ. Sehr gut stellt diesen Zusammenhang Vjera Katalinić in ihrer Untersuchung zum Topos der Nation in der Kroatischen Oper dar. Die Realität blieb in den meisten Fällen allerdings hinter dem ambitionierten Anspruch auf eigene, nationale Opernkunst zurück. Der Geschmack des Publikums und der Kritiker richtete sich nach der Qualität und dem Prestige der Musik und der Inszenierung, nationales Mobilisierungspotenzial oder das Prädikat "vaterländisch" alleine reichten nie als Kriterium für den Publikumserfolg aus. So blieb die Oper in Europa und später auch weltweit bis auf wenige Ausnahmen italienisch, französisch oder deutsch, und das nicht nur, weil diese drei die Geburtssprachen dieser Kunstgattung waren, sondern weil ihre Opern auch als Ausweis von Hochkultur, Zivilisation und Fortschritt wahrgenommen wurden. Dass dieses Merkmal gerade in den europäischen Kolonien die wichtige Funktion des Kulturtransfers erfüllte, macht vor allem Jutta Toelles Aufsatz über den weltweiten Siegeszug der italienischen Oper deutlich. Erhellend sind in diesem Zusammenhang auch die von Annegret Fauser beschriebenen mal mehr, meist aber weniger geglückten Versuche US-amerikanischer Künstler, europäische Opern ins amerikanische Englisch zu übersetzen oder sogar teilweise in eine typisch amerikanische Szenerie zu verlegen.
Der Besuch einer Opernvorstellung war also immer auch mehr als bloßer Kunstgenuss und diente der eigenen gesellschaftlichen Inszenierung. Er blieb so bis in die 1990er Jahre eine kulturelle Praxis der gesellschaftlichen Eliten, die dieses Repräsentationsmonopol aufgrund eines weitgehend fehlenden Interesses von Seiten der anderen sozialen Schichten noch nicht einmal mit großem Aufwand verteidigen mussten. Das belegen anschaulich beispielsweise die Aufsätze von Fabian Bien über die Ost-Berliner Komische Oper in der DDR der 1950er Jahre oder die Darstellung der Diskussion um die Neuausrichtung der Berliner Opernlandschaft nach 1989 von Sarah Zalfen.
Der von Sven Oliver Müller, Philipp Ther, Jutta Toelle und Gesa zur Nieden herausgegebene Sammelband ist ein gelungener und anregender Einblick in das Forschungspotential, das in der Kombination von geschichts- und musikwissenschaftlicher Betrachtung der Oper steckt und kann uneingeschränkt all jenen empfohlen werden, deren Interesse sich auf die sozialhistorische Bedeutung der Oper im 19. und 20. Jahrhundert als Ganzes wie auch auf die vielen damit verbundenen Einzelaspekte richtet.
Boris Slamka