Daniel Lenski: Von Heuss bis Carstens. Das Amtsverständnis der ersten fünf Bundespräsidenten unter besonderer Berückichtigung ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen, Berlin: Edition Kirchhof & Franke 2009, 171 S., ISBN 978-3-933816-41-2, EUR 28,00
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"Der Sozialdemokrat Gustav Heinemann war der erste Präsident, der zum Zeitpunkt seiner Wahl einer Partei angehörte, die sich im Bundestag in der Opposition befand." (89) Dieser nicht unerhebliche Fehler in Daniel Lenskis Werk über das Amtsverständnis der ersten fünf Bundespräsidenten - die SPD gehörte am Tag der Wahl Heinemanns, am 5. März 1969, zusammen mit der CDU und der CSU der ersten Großen Koalition an - sei gleich zu Beginn erwähnt. Er fällt aber für die Gesamtbeurteilung des Buches nicht allzu sehr ins Gewicht, denn Lenski hat eine wichtige und - nach Horst Köhlers Rücktritt als Bundespräsident - auch aktuelle Studie vorgelegt.
Oft wird die Meinung vertreten, das Amt des Bundespräsidenten sei keinesfalls bedeutungslos, obwohl sich die Amtsinhaber überwiegend repräsentativen Aufgaben widmen müssen. Schließlich sei das Staatsoberhaupt unter allen politischen Funktionsträgern am ehesten dazu prädestiniert, abseits des Tagesgeschäfts geistige oder moralische Orientierung zu bieten. Nach der Verfassung ist der Präsident dazu nicht verpflichtet, und doch haben wohl alle bisherigen Amtsträger einen derartigen Anspruch besessen und auch - mehr oder weniger erfolgreich - einzulösen versucht. So ist es nicht ganz glücklich, dass sich Lenski stärker auf den verfassungsrechtlichen Bereich konzentriert, die politische Meta-Ebene aber nur am Rande behandelt. Bei der Beurteilung des Amtsverständnisses und der Amtsführung eines Bundespräsidenten sollten die verfassungsrechtlichen und "symbolisch-rhetorischen Aufgaben" (17), wie der Autor sie nennt, stets gleichrangig in die Bewertung einbezogen werden.
Diese Notwendigkeit ergibt sich schon daraus, dass als besonders politisch eingeschätzte Präsidenten wie Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker ihre in der Verfassung festgeschriebenen Befugnisse alles andere als extensiv auslegten. Zwar sieht auch Lenski dieses Erfordernis, aber in der Beschreibung dessen, was über die "materielle[n] Kompetenzen" (15) hinausgeht, bleibt er oft zu oberflächlich und schreibt zum Teil - wie sich bei Heinrich Lübke zeigt - am Thema vorbei. Hier macht sich eine gewisse Untugend des Verfassers besonders bemerkbar, die sich im Übrigen durch das gesamte Werk zieht: Er beruft sich ausführlich auf andere Autoren, wagt aber selten ein eigenes Urteil.
Hinsichtlich der Konzeption des Bandes stellt sich eine weitere Frage. Lenski betont, für die Präsidentschaften nach derjenigen von Karl Carstens seien Quellen und Sekundärliteratur "nur eingeschränkt vorhanden bzw. verfügbar" (18). Deshalb habe er sich auf die Jahre von 1949 bis 1984 beschränkt. Quellen definiert er allerdings als "Protokolle, Reden, Medienberichte und Erinnerungen", Literatur als "Biografien sowie politikwissenschaftliche, juristische und historische Analysen" (20). Dergestalt leuchtet nicht ein, warum der Verfasser die Reihe nicht mindestens bis Richard von Weizsäcker oder gleich bis einschließlich Horst Köhler fortgesetzt hat. Zwar liegen bisher nur über Heinrich Lübke, Gustav Heinemann und Karl Carstens wissenschaftliche Biographien vor, aber unter Lenskis eigenen Prämissen hätte es ansonsten wohl keinen Grund für eine Beschränkung gegeben.
Es bleibt vor allem festzuhalten, dass Lenski der überwiegend vertretenen Auffassung widerspricht, das höchste Staatsamt habe sich hinsichtlich der Auslegung verfassungsrechtlicher Aufgaben unter Theodor Heuss ausgeprägt. Für ihn vollzog sich der "entscheidende Wandel in der Handhabung der materiellen Kompetenzen zwischen Lübke und Heinemann" (149). Dieser These kann man einerseits zustimmen, weil Lübke sein Amt sehr stark politisch interpretierte. Andererseits wird die stilbildende Funktion, die Heuss als Bundespräsident ohne Zweifel zukommt, mit derartigen Aussagen zu sehr relativiert. Lübkes Ambitionen stellen einen extremen, personenbezogenen Ausnahmefall dar, der nicht überbewertet werden sollte.
Lenski vertritt seine Hauptthese auch nicht wirklich stringent, wie sich bei der Behandlung des Amtsverständnisses von Walter Scheel zeigt. Der Autor legt richtig dar, dass Scheel, gerade im außenpolitischen Bereich, den "Anspruch einer Kompetenzerweiterung" erhob, "die zumindest in Teilen zu Lasten der Bundesregierung gegangen wäre" (119). Außerdem will er glauben machen, dass Scheel nach den Bundestagswahlen im Oktober 1976 massiv Einfluss auf die Koalitionsbildung nahm und sogar Helmut Kohl anstelle von Helmut Schmidt als Bundeskanzler vorschlagen wollte (110). Dies steht nicht im Einklang mit dem von Lenski beschriebenen Wandel nach dem Ende der Präsidentschaft Lübkes. Seine Zusammenfassung aber lautet, die Präsidenten Heinemann, Scheel und Carstens hätten sich einem "austarierten Machtverhältnis" gefügt: "In seinem Selbstverständnis wurde der Bundespräsident hinsichtlich der Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlichen Kompetenzen unpolitisch." (150) Diesen Widerspruch dadurch zu erklären, dass Scheel mit seinen Ambitionen letztlich gescheitert sei, wirkt nicht überzeugend, zumal Lenski an gleicher Stelle (150) darauf hinweist, dass auch Heuss und Lübke einen diesbezüglichen Anspruch nicht hätten durchsetzen können.
Überhaupt ist es fraglich, ob Scheel - als einer der beiden Gründungsväter der sozialliberalen Koalition - 1976 tatsächlich aktiv versucht hat, einen Koalitionswechsel der FDP von der SPD zur CDU/CSU herbeizuführen. Zwar unterliegt es keinem Zweifel, dass der vierte Bundespräsident gerade in den ersten Jahren sein Amt immer wieder als ein politisches auslegte und damit heftige Irritationen auslöste. Entsprechende Äußerungen Scheels dienten aber wohl vornehmlich der Profilierung des eigenen Amts bzw. der eigenen Person. Im Gegensatz dazu strebte Lübke tatsächlich in voller Überzeugung die Ablösung der christlich-liberalen und die Bildung einer Großen Koalition an.
Bei der Einschätzung des Amtsverständnisses von Karl Carstens folgt Lenski zu sehr der in der Forschung häufig vertretenen Auffassung, der fünfte Bundespräsident sei ein gänzlich unpolitisches Staatsoberhaupt gewesen. Es ist richtig, dass eine "bescheidenere Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlichen Kompetenzen" (140) kaum noch vorstellbar ist. Doch in tagespolitischen Fragen hat Carstens durchaus nicht immer Zurückhaltung geübt, im Gegenteil. So stand er mit seinen außen- und sicherheitspolitischen Ansichten in einem deutlichen Kontrast zur so genannten "Friedensbewegung", deren moralisches Engagement er aber stets achtete. Nachdem sich der Bundestag für den Nachrüstungsteil des NATO-Doppelbeschlusses ausgesprochen hatte, würdigte Carstens diese Entscheidung in seiner Weihnachtsansprache vom 24./25. Dezember 1983: "Ein Meinungsstreit durchzieht unser Land [...]. Ich persönlich glaube, dass ein Gleichgewicht der Kräfte, verbunden mit dem unablässigen Bemühen um Abrüstung und Verständigung, die beste Garantie für den Frieden ist." [1]
Fazit: Im Hinblick auf die Konzeption und einzelne Interpretationen vermag das Werk von Lenski nicht immer zu überzeugen. Jeder, der sich mit dem Amtsverständnis der Bundespräsidenten von Heuss bis Carstens im verfassungsrechtlichen Rahmen beschäftigt, kann es allerdings als guten Einstieg nutzen, denn das Buch bietet einen klar strukturierten, die bisherigen Forschungsergebnisse zusammenfassenden Überblick.
Anmerkung:
[1] Karl Carstens, Reden und Interviews (5). 1. Juli 1983 - 1. Juli 1984, Bonn 1984, S. 207 f.
Tim Szatkowski