Klaus H. Lauterbach (Hg.): Der Oberrheinische Revolutionär. Das buchli der hundert capiteln mit xxxx statuten (= Monumenta Germaniae Historica. Staatsschriften des späteren Mittelalters; Bd. 7), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2009, LXI + 854 S., ISBN 978-3-7752-0307-4, EUR 125,00
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Wenn ein unikal überliefertes Werk von großem geistesgeschichtlichen Interesse über Jahrzehnte keinen kritischen Editor findet, dann kann der Grund in der Länge des Textes und der schlechten Lesbarkeit der Handschrift liegen. Womöglich ist der Text zudem mit abundanten Mengen juristischer Allegationen und theologischer Zitate gespickt, die den Bearbeiter wie den Leser mit profunder Gelehrsamkeit verstören. Doch wenn ein derartiges Werk dann doch in einer traditionsreichen Reihe der MGH erscheint, besteht wenig Anlass, am Erfolg des Unternehmens zu zweifeln. Im Falle des hier anzuzeigenden "Oberrheinischen Revolutionärs" ist diese Edition nach Jahrzehnten in mustergültiger Weise entstanden. Das Vorwort vermittelt einen lebendigen Eindruck von der mühsamen Editionsgeschichte des Werks, das nach der auszugsweisen Publikation durch Hermann Haupt 1893 und der wissenschaftlich unzureichenden Edition durch Annelore Franke (Leipzig 1967) nun in Klaus H. Lauterbach einen kompetenten Bearbeiter gefunden hat.
Das Werk des sogenannten 'Oberrheinischen Revolutionärs' ist sicher eines der interessantesten wenn auch exzentrischsten aus den Jahrzehnten der Bundschuhaufstände, unmittelbar vor dem Ausbruch der Reformation. Zur vieldiskutierten Person des Verfassers möchte Lauterbach sich nicht mehr äußern, obwohl er selbst in einer früheren Studie den kaiserlichen Sekretär Mathias Wurm von Geudertheim präsentiert und Volkhardt Huth zuletzt Jacob Merswin als Autor in Stellung gebracht hat. [1] Mangels eines direkten Belegs für den Verfasser, der seine Identität in seinem Werk kunstvoll verschleiert, scheint dem Editor die Postulierung eines konkreten Namens heute wissenschaftlich unhaltbar. Auf Deutsch geschrieben, verrät die Reformschrift dennoch einen hochgebildeten Autor mit Verbindungen zu den höchsten Kreisen der Macht, der sich gleichwohl einen wachen Blick für die Missstände seiner Zeit besonders im Klerus bewahrt hat. Von dessen stupender Gelehrsamkeit zeugt nicht zuletzt das umfangreiche Quellenverzeichnis der Edition, das auf 30 Seiten von "Accursius" bis "Zimmerische Chronik" eine Tour de Force durch die mittelalterliche Literaturgeschichte bietet. Das Werk setzt sich aus zwei großen Teilen zusammen, deren erste hundert Kapitel in einer Darstellung der Weltgeschichte versuchen, die Krisenerscheinungen der Zeit um 1500 historisch-paradigmatisch zu erfassen. Der zweite Teil ruft in insgesamt vierzig geistlichen und weltlichen Statuten zur Reform der aktuellen Missstände auf.
Die sich auf das Wesentliche beschränkende Einleitung zur Edition wendet sich zunächst dem 'buchli' und seinem Verfasser zu und bemüht sich anschließend um die historische Kontextualisierung des Werkes. Der Herausgeber wählt zur Benennung der Schrift die aus der Handschrift übernommene Bezeichnung 'buchli', die er gegen die von Hermann Haupt eingeführte Bezeichnung als 'Oberrheinischer Revolutionär' setzt. Ob jene geeignet sein wird, die in ihrer Prägnanz stärkere, ältere Bezeichnung zu verdrängen, wird sich zeigen. Lauterbach datiert die Abfassungszeit des Werkes auf die Zeit zwischen 1498 und 1509, die er aus historischen Andeutungen im Werk selbst erschließt. Den unmittelbaren politischen Kontext des Textes sieht er in den Reichstagen am Ende des 15. Jahrhunderts, auf denen der anonyme Autor "seine Reformvorstellungen erneut Kaiser und Reichsständen vorzutragen" (2) gedachte. Daraus wurde wegen der ambitionierten Anlage des Werkes freilich nichts, das der Autor auch nicht beenden, geschweige denn abschließend redigieren konnte. Lauterbach interpretiert die Schrift als "Aus- und Umarbeitung eines früheren, historiographischen Entwurfs" aus der Zeit um 1490 (1), was er aus Anlage und Aufbau des 'buchli' plausibel machen kann. Die folgende Einführung in die formale Gliederung und den inhaltlichen Aufbau schafft Verständnis für die Konstruktionsprinzipien des Werks, das auf der Schwelle zwischen historiographischer und gelehrter Argumentation den Eindruck "komplizierter Unübersichtlichkeit" (10) nicht vermeiden kann. Seine Intention sieht Lauterbach in einer Tradition latenter Zeitkritik (12), die am Ende des 15. Jahrhunderts in dem "Wagnis" kulminierte, "die Zeitkritik mit theologischen, historischen, historisch-prognostischen und juristischen Argumenten zu 'rationalisieren' und der Reformdiskussion dienstbar zu machen." (12). Die unmittelbare Wirksamkeit des Werkes war mangels Verbreitung freilich gering, auch wenn Lauterbach an anderer Stelle bereits die Bedeutung des Oberrheiners in den gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen des Spätmittelalters im Sinne einer "reflektierten und aus dieser Reflektion heraus produktiven Zeitgenossenschaft" explizieren konnte. [2]
Es folgt eine intensive Auseinandersetzung mit der Sprache der Handschrift, die in ihrer Uneinheitlichkeit hohe Anforderungen an die wissenschaftliche Akribie und editorische Präzision ihres Herausgebers gestellt hat. Die Edition wird durch drei aufeinander verweisende Register im Gesamtumfang von etwa 250 Seiten erschlossen. Ein Stellenregister weist die unzähligen juristischen, theologischen und historiographischen Zitate nach, das Namenregister gibt Wort- und Ortsnamen, die sowohl modern wie nach der Schreibweise in der Handschrift lemmatisiert worden sind. Ein Höhepunkt ist ohne Zweifel das Wortregister, das als Konkordanz zur Edition fungiert, und neben den verschiedenen Schreibweisen auch Erklärungen zur Begrifflichkeit liefert.
Auch die Edition selbst erweist sich als ein Musterbeispiel an Präzision. Der Text wird durch einen doppelten Apparat begleitet, der einerseits Besonderheiten der Handschrift und Eingriffe des Editors minutiös dokumentiert und zweitens einen ausführlichen Stellenkommentar liefert. Dieser weist nicht nur die juristischen, theologischen und literarischen Zitate und Verweise akribisch nach, sondern erläutert auch die Nutzung der Textstellen durch den spätmittelalterlichen Gelehrten, der parallel und interdisziplinär mit Texten unterschiedlichster fachlicher Herkunft zu arbeiten verstand. Auch inhaltlich unzugängliche Stellen werden für den Leser kontextualisiert und eingehend erläutert.
Die Forschung wird sich fortan nicht mehr mit dem Hinweis auf seinen traurigen Editionszustand der Arbeit mit diesem sperrigen und außergewöhnlichen Werk verweigern können. Lauterbach hat mit seiner Edition die Grundlage für eine neue Lektüre und vertiefte Auseinandersetzung mit einem Text geschaffen, der hinsichtlich der Verbindung von Reform und Reformation wie zu den Traditionslinien spätmittelalterlichen Reformdenkens im Kontext der Bauernaufstände profunden Erkenntnisgewinn verspricht.
Anmerkungen:
[1] Klaus H. Lauterbach: Der "Oberrheinische Revoutionär" und Mathias Wurm von Geudertheim. Neue Untersuchungen zur Verfasserfrage, in: DA 45 (1989), 109-172; Volkhardt Huth: Der "Oberrheinische Revolutionär". Freigelegte Lebensspuren und Wirkungsfelder eines "theokratischen Terroristen", in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 157 (2009), 79-100.
[2] Klaus H. Lauterbach: Der "Oberrheinische Revolutionär" - der Theoretiker der aufständischen Bauern? in: Bundschuh. Untergrombach 1502, das unruhige Reich und die Revolutionierbarkeit Europas, hrsg. von Peter Blickle und Thomas Adam, Stuttgart 2004, 140-179, Zitat 142.
Kerstin Hitzbleck