Thomas Welskopp: Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 660 S., ISBN 978-3-506-77026-4, EUR 49,90
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Broadwalk Empire lautet der Titel einer TV-Serie, die seit September 2010 im amerikanischen Bezahlfernsehen läuft und die Zuschauer in die Zeit der Prohibition führt. Die Geschichte spielt im Atlantic City der 1920er Jahre, wo Enoch "Nucky" Thompson durch den Verkauf von Alkohol und durch andere illegale Geschäfte Reichtum und politischen Einfluss anhäuft. Denn paradoxerweise eröffnete das Verbot der Produktion, des Transports und des Handels mit Alkohol (nicht aber des Konsums!), das als 18. Verfassungszusatz 1920 erlassen wurde, gerade kriminellen Aktivitäten Tür und Tor. In den USA ist die Serie ein ziemlicher Erfolg, wofür nicht nur die opulenten Kostüme und aufwendigen Kulissen verantwortlich sind. Vielmehr werden hier komplexe Charaktere gezeichnet, bei denen "das Gute" keineswegs immer gewinnt. Dass Martin Scorsese bei der Pilotepisode Regie führte und dafür sieben Millionen Zuschauer fand, spricht für sich; Broadwalk Empire ist zugleich ein Indiz für jene Verlagerung kreativen Filmemachens vom Kino ins Fernsehen, die man seit einigen Jahren in den USA beobachten kann.
In dieselbe Welt führt Thomas Welskopps neuestes Buch, das er als "Kulturgeschichte der Prohibition" versteht. In Wirklichkeit ist es viel mehr als das. Wäre es in den 1990er Jahren erschienen, hätte Welskopp es wahrscheinlich eine "Gesellschaftsgeschichte" genannt; auf jeden Fall bietet das Werk tiefe Einblicke in die Geschichte der amerikanischen Gesellschaft der 1920er und der frühen 1930er Jahre und bietet eine Gesamtdarstellung zum Thema. Die Studie basiert im Wesentlichen auf der vorhandenen Literatur, und herausgekommen ist eine beeindruckende Synthese und ein Standardwerk, an dem man künftig nicht vorbeikommen wird.
Welskopp setzt ein mit einer knappen Analyse der längeren Vorgeschichte der Temperenzbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts und arbeitet unter anderem klar heraus, wie heterogen die Allianz der Prohibitionsbefürworter vor dem Ersten Weltkrieg war: Evangelikale Bibelausleger finden sich hier genau so wie rassenbiologische Eugeniker, und geeint wurden sie vor allem durch das Feindbild des Saloon als Ausdruck alles "Unamerikanischen". Wichtiger Bestandteil des Amalgams aus Patriotismus und Prohibition war deswegen die Frontstellung gegenüber African-Americans, Katholizismus oder die Immigration aus Süd- und Osteuropa, und mit solchen Positionen errang die Koalition der Prohibitionisten zunehmend diskursive Lufthoheit. Das galt besonders, seitdem im Ersten Weltkrieg Antialkoholismus und antideutsche Ressentiments zusammenfanden.
Die weiteren Kapitel mustern das Recht, die Ökonomie, die Kultur, die Gesellschaft, die Medien und die Politik der Prohibition durch. Diese systematische Gliederung mag etwas schematisch erscheinen. Sie bietet jedoch - wie Welskopp selbst betont - den Vorteil, dass jedes Kapitel auch für sich stehen kann. Bei konventioneller Lektüre von Anfang bis Ende ergeben sich allerdings gewisse Redundanzen, die durch ein besseres Lektorat hätten vermieden werden können. Die behandelten Dimensionen werden allerdings in beeindruckender Tiefe und Gründlichkeit durchleuchtet und in eine souveräne Zusammenschau überführt. Einige Beispiele müssen hier genügen. Nicht nur, dass die im Wesentlichen bekannten Praktiken der organisierten Kriminalität ausführlich dargestellt werden (vielleicht ein wenig zu sehr auf Chicago und den Nordosten konzentriert; spannend wäre es, mehr über ländliche Räume oder den Süden zu erfahren) oder die zwielichtige Rolle von John F. Kennedys Vater Joseph im Geschäft mit dem Alkohol erhellt wird. Auch viele weniger bekannte Dimensionen und Folgen der Prohibition werden erörtert. So zeigt Welskopp etwa, dass sich der Aufstieg des kalifornischen Weinbaus zu guten Teilen der Prohibition verdankt. Eindrucksvoll wird daneben etwa herausgearbeitet, welche enormen staatlichen Ressourcen der vergebliche Versuch verschlang, Amerika trockenzulegen: 1929 kostete die prohibition enforcement stolze 50 Mio. Dollar und stellte somit den größten Haushaltsposten des Bundes dar. Tiefenscharf analysiert wird außerdem die soziale Differenzierung, welche aus dieser Politik resultierte. Während die Prohibition den Zugang der Arbeiterschaft zu Alkohol tatsächlich deutlich erschwerte, blieb der Konsum in der Mittelklasse relativ hoch. Deren neu aufkommende Cocktail-Kultur hatte den Reiz, den Lebensstil der Superreichen nachzuahmen; Welskopp schildert zudem einfühlsam, warum die Mitte der Gesellschaft es plötzlich als reizvoll empfand, geltende Gesetze zu überschreiten. Stark kulturhistorisch eingefärbt ist schließlich seine Interpretation, warum die Prohibition zunehmend kritisiert und schließlich 1933 wieder abgeschafft wurde. Für die Trendwende in der öffentlichen Meinung trugen laut Welskopp "die Wechselbeziehungen zwischen dem Wandel in System und Technik der Massenmedien sowie der Verlagerung und Öffnung des politischen Feldes die Verantwortung" (449).
Trotz guter erzählerischer Läufe ist Welskopps Stil manchmal etwas trocken und spürbar dem Bielefelder Vokabular verpflichtet. Dagegen ist seine inhaltliche Position ziemlich "nass". Welskopp betont nicht nur die bekannte inhaltliche Inkonsistenz vieler Prohibitionsbefürworter - die vor allem Anderen das Trinken verbieten wollten, sich selbst aber durchaus einen Schluck genehmigten. Auch weitere problematische Folgewirkungen, wie der Aufstieg der organisierten Kriminalität, ein Klima der Ausgrenzung, die oft gesundheitsgefährdenden Folgen des konsumierten Schwarzmarktalkohols sowie die Aushöhlung staatlicher Legitimität durch das Versagen, die Prohibition verfassungskonform durchzusetzen, gehörten dazu.
Der Bann von Alkohol spiegelte so insgesamt die Vorstellung der perfekten Nation wider, aufbauend auf radikalen Machbarkeitshoffnungen und der Idee der politischen Gestaltbarkeit individuellen Verhaltens und sozialer Ordnung. Das brachte Herbert Hoover auf den Punkt, wenn er 1928 die Prohibition ein "noble experiment" nannte. Noch greifbarer wird dieses Denken im massiven Eingriff in Eigentums- und Persönlichkeitsrechte, die mit der Prohibition einhergingen. Eines der absurdesten Beispiele, das Welskopp liefert, ist die Geschichte des Mannes, dem auf offener Straße von Prohibitionsagenten die Hose weggenommen wurde. Die offizielle Begründung lautete folgendermaßen: Der Mann habe in der Hosentasche Alkohol mit sich geführt, und insofern handele es sich bei dem Kleidungsstück um ein Transportmittel für eine gesetzeswidrige Handlung. Während dieser Fall zeitgenössisch von den Medien schnell aufgegriffen und skandalisiert wurde, zeigt sich die totalisierende Tendenz noch deutlicher am Staatsprohibitionsgesetz von Ohio. Saloons und Versammlungsräume durften demnach weder Vorhänge noch undurchsichtige Scheiben haben. Welskopp überlässt es hier seinem Publikum, Parallelen zur Politik der inneren Sicherheit seit dem 11. September zu ziehen. Dass man in seinem Buch weit über den konkreten Gegenstand hinaus etwas über die illiberalen Potentiale demokratischer Ordnung lernen kann, ist jedoch offensichtlich.
Angesichts des bisherigen Oeuvres des Autors mag man sich ein wenig wundern, warum Welskopp die Geschichte der Prohibition weitgehend nationalzentriert erzählt und internationale Vergleiche und Verortungen so gut wie unterlässt. Dabei machen das Buch nicht zuletzt jene wenigen Stellen besonders interessant, bei denen der Autor von dieser Regel abweicht. So verdeutlicht erst der Vergleich mit anderen westlichen Gesellschaften, welche Auswirkungen die Prohibition auf die Höhe des Alkoholkonsums hatte. Danach sank die Menge des Getrunkenen in Amerika zunächst merklich ab, stieg dann aber wieder auf ungefähr zwei Drittel des Ausgangsniveaus. Insgesamt ergibt sich so ein Muster, das demjenigen in verschiedenen europäischen Ländern ohne Prohibition sehr ähnlich ist. Nicht nur die zahlreichen Defizite in der Umsetzung der Prohibition, sondern auch dieser Befund verweist somit auf die Grenzen staatlichen Einflusses auf Konsumgewohnheiten. Bedenkt man außerdem, dass Prohibition im frühen 20. Jahrhundert auch in Russland (sowohl im Zarenreich wie auch in der frühen Sowjetunion), Norwegen, Finnland, Island, Teilen Kanadas und anderen Gesellschaften praktiziert wurde, stellt sich darüber hinaus die Frage nach wechselseitigen Bezügen, Abgrenzungen und Vergleichen. Zugegeben, das wäre Stoff für ein weiteres Buch. Nicht überzeugt hat mich jedoch die apodiktische Erklärung zu Beginn des Werkes, dass sich die amerikanische Prohibitionszeit dem Vergleich entziehe, da es in den USA "immer um weit mehr als Alkohol" gegangen sei (14) - unterstellt dies doch, dass die Prohibition anderswo keine weiteren gesellschaftlichen Implikationen gehabt hätte. Zugleich ist offensichtlich, dass diese Kritik den Wert des Buches kaum mindert.
In Deutschland soll Broadwalk Empire im Frühjahr 2011 auf dem Pay-TV-Sender TNT anlaufen. Welskopps Buch kann man dagegen jetzt schon kaufen.
Kiran Klaus Patel