Sabine Föllinger: Aischylos. Meister der griechischen Tragödie, München: C.H.Beck 2009, 224 S., ISBN 978-3-406-59130-3, EUR 24,90
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Dieses Buch Sabine Föllingers richtet sich primär an einen weiteren Leserkreis und setzt zugleich ihre philologischen Studien zum Werk des Aischylos fort (vgl. insb. Genosdependenzen. Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos, Göttingen 2003). Der empfehlenswerte Überblick beginnt mit einem allgemeinen Kapitel über den Autor und sein Werk, dann folgen Interpretationen der (einschließlich des Gefesselten Prometheus) erhaltenen sieben Dramen in der Reihenfolge ihrer Aufführung, Notizen zu den Satyrspielen und den Fragmenten aischyleischer Tragödien und ein Ausblick auf die Rezeption der Dramen bis ins späte 20. Jahrhundert, ein Literaturverzeichnis und ein Register.
Bereits die Mitbürger des Aischylos erkannten seine Sonderstellung unter den führenden Dramatikern Athens im 5. Jahrhundert an, da der Demos als Ehrung nach Aischylos' Tod die ausnahmsweise Wiederaufführung seiner Stücke beschloss. Das Meisterhafte an Aischylos' Werk besteht für Föllinger "in der Komplexität, die seine Darstellung menschlicher Problematik auszeichnet" (7). Das Kapitel 1 (Charakteristika der Aischyleischen Tragödie, 11-45) referiert über Begriff, Entstehung und Funktion der Tragödie sowie über ihre Produktionsbedingungen bei den Tragödienagonen insbesondere am staatlichen Kultfest der Dionysien. Nur wenige verläßliche biographische Informationen (20-24) sind über Aischylos überliefert. Aus althistorischer Sicht wird der politische und soziale Kontext (26-30) der aischyleischen Tragödien in diesem Kapitel (ebenso wie in den folgenden Bemerkungen zu den Persern, den Hiketiden und den Eumeniden) zu wenig betont. Die Tragödienaufführungen, die Panathenäenfeste und die Epitaphienfeiern und -reden waren drei gleichermaßen wirksame öffentliche Foren der generationsübergreifenden Diskussion und Weitergabe der Politenidentität.
Eine jüngst von Robert Bees (Aischylos. Interpretationen zum Verständnis seiner Theologie, München 2009, bereits knapp erwähnt bei Föllinger 49) zusammengefaßte Forschungsrichtung versteht Aischylos primär als einen Theologen. Andere betrachten Aischylos insbesondere als Lehrer seiner Mitbürger auf der Theaterbühne während der umwälzenden politischen Entwicklungen in Athen. Föllinger selbst warnt vor einer simplifizierenden Interpretation der aischyleischen Dramen als didaktische Botschaften, sei es religiöser, politischer oder allgemein ethisch-philosophischer Art. Föllinger setzt sich hier vielleicht zu kritisch mit der Position Christian Meiers auseinander (siehe C. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt 1980, ders.: Politik und Anmut, Berlin 1985, sowie Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988). Sie selbst sieht in Aischylos primär den genialen Dramatiker und betont die Konflikte über mehrere Generationen nicht nur auf interpersoneller Ebene zwischen den menschlichen Protagonisten, sondern auch auf einer parallelen Ebene der Götterwelt. Die aischyleischen Figuren werden nicht nur in einen unentrinnbaren Zusammenhang des Verhängnisses gebracht, sondern Aischylos lässt sie über ihre Lage reflektieren und auf der Bühne um eine Entscheidung ringen. In diesen Entscheidungsszenen aber kann man mit Martin Hose "eine Facette der politischen Kunst der Tragödie sehen", nämlich die "Darstellung der Schwierigkeiten in Entscheidungsprozessen", wie sie in der jungen Demokratie oft vorkamen (Die Orestie des Aischylos - die Götter, das Recht und die Stadt, in: E. Stein-Hölkeskamp - K.-J. Hölkeskamp (Hgg.): Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, München 2010, 418-434 und 648-650, Zitate 422).
In den Persern (472 v.Chr.) sieht Föllinger (53-76) einen zentralen Konflikt der Völker und der Generationen. In den Sieben gegen Theben (467 v.Chr.) thematisiert Aischylos Konflikte zwischen Individuum und dem Bürgerkollektiv der Polis (77-98). Die Bedrohung der Gemeinschaft wird in den Hiketiden (ca. 463 v.Chr.) exemplarisch diskutiert (99-114). Föllinger erkennt (105-107) zwar einen "latenten politischen Aspekt" der Hiketiden an, doch wäre hier eine gründliche Diskussion der berühmten Formulierung von der demou kratousa cheir, der (durch die Abstimmung) "herrschenden Hand des Volkes" (Hiketiden v. 604) als einem frühen Testimonium für die isonome Verfassungswirklichkeit in Athen wünschenswert gewesen. Föllinger betont dagegen die prominente Rolle des Chores der Danaiden und die Aufwertung der Bedeutung des Danaos als Innovationen des Aischylos.
"Konflikte und (k)ein Ende" lautet die programmatische Überschrift des längsten Kapitels, das sich der Orestie (458 v.Chr.) widmet (115-165). "Von allen tragischen Werken, die wir aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. besitzen, ist die Orestie das großartigste, das in seiner Vielschichtigkeit unüberbietbar ist" (126). Die Sonderstellung der Orestie resultiert jedoch auch bereits aus der Überlieferungsgeschichte. Denn es ist die einzige antike Tragödientrilogie, die sich mit allen drei Stücken, Agamemnon, Choephoren und Eumeniden, erhalten hat. Die Orestie handelt von den tragischen Geschehnissen im Hause des Atreus über mehrere Generationen. Den Abschluss bildete ein Satyrspiel mit dem Titel Proteus. Föllinger unterstreicht (122-126) vier Innovationen in der Behandlung des Atridenstoffes in der Orestie: eine Aufwertung der weiblichen Protagonisten (Klytaimnestra), die Problematisierung des Muttermordes durch Orestes, die Überhöhung des Konfliktes im Atridenhaus durch die Götterebene mit dem Streit zwischen Apollon und den Erinyen sowie das Eingreifen Athenes, und die politische Dimension des Mythos durch eine Verknüpfung des Geschehens mit der Gründungserzählung des Areopagrates in Athen. Die Anrufung des Zeus in der Parodos des Chores im Agamemnon und den Leitsatz pathei mathos ("durch Leiden lernen" des Menschen) sieht Föllinger anders als viele Gelehrte nicht als eindeutige Äußerung über religiöse oder philosophische Auffassungen des Aischylos an (132). Die Kernkonflikte der Orestie-Tragödie werden am Ende der Eumeniden nach Föllingers Meinung durch die Einsetzung des Areopages und den Freispruch Orests infolge der Stimmengleichheit nicht gelöst (153-54). Am Ende der Orestie sei die Weltsicht des Aischylos von bedenklichen Kompromissen geprägt (164-165). Jedoch ist bereits mehrfach auf den zukunftsweisenden (und zugleich demokratischen) Aspekt der Legitimation des Freispruches durch Verfahrensregeln hingewiesen worden.
Föllinger hält den Gefesselten Prometheus (166-181) trotz vieler von Philologen geäußerter Bedenken für ein echtes Stück des Aischylos. Den Hauptkonflikt sieht sie zwischen dem 'tyrannischen' Machtanspruch des Zeus und dem trotzigen Freiheitspathos des Titanen Prometheus. Leider ist kein Satyrspiel des Aischylos vollständig erhalten geblieben, der in der Antike auch als großer Meister dieser eher 'leichten' Gattung galt (182-184). Föllingers wichtiger Ausblick auf die Rezeptionsgeschichte des Aischylos (189-200) zeigt, dass besonders oft die Orestie und der Prometheus-Stoff aufgegriffen wurden. Vor allem die Orestie ist bis in die Gegenwart immer wieder als eine Anregung für große literarische, dramatische und musikalische Kunstwerke empfunden worden. Bekanntlich bezog z.B. auch Richard Wagner wesentliche Anregungen für sein 'Gesamtkunstwerk' Der Ring des Nibelungen aus Aischylos' Orestie.
Johannes Engels