Éric Bussière / Émilie Willaert: Un projet pour l'Europe. Georges Pompidou et la construction européenne (= Georges Pompidou Archives; No. 4), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010, 447 S., ISBN 978-90-5201-596-5, EUR 41,60
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Im Bewusstsein der Öffentlichkeit wie im Interesse der Historiographie steht Georges Pompidou allenfalls in der zweiten, wenn nicht dritten Reihe der Staatsmänner der Fünften französischen Republik. Um so verdienstvoller ist es, dass die "Association Georges Pompidou" ihn seit gut zwei Jahrzehnten mit Konferenzen und Dokumentationen erfolgreich vor dem Vergessen zu bewahren trachtet. Schon zum zweiten Mal widmet sie sich seit ihrer Gründung 1989 dem Thema Europa und legt nach einem 1993 veranstalteten Kolloquium [1] nun eine Sammlung zentraler Quellen über das Denken und Handeln Pompidous zur europäischen Einigung vor. Wie der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Association, Eric Bussière, und die chargée de recherches, Emilie Willaert, in ihrer instruktiven Einleitung hervorheben, beleuchtet der Band "la maturation d'un projet" vom Beginn der Premierministerzeit 1962 bis zum Ende seiner Präsidentschaft 1974 (22). Erfreulicherweise, und darin liegt ihr eigentlicher Reiz, bietet die Dokumentation neben bereits veröffentlichten Reden, Ansprachen, Pressekonferenzen und Interviews [2] auch eine reiche Auswahl bisher unbekannter Schriftstücke aus dem Nachlass Pompidous: Briefe an europäische Staatsmänner, Aufzeichnungen seiner conseillers techniques en charge des affaires européennes sowie Protokolle von Ministerratssitzungen und von internationalen Regierungstreffen.
Angesichts des von der Verfassung vorgegebenen Kompetenzradius' kann es nicht verwundern, dass Pompidous Europapolitik vor 1969 ganz auf der Linie des de Gaulleschen Konzepts von der "Europe européenne" lag. Europa repräsentierte für ihn "une certaine conception même de l'homme, de la société, de la civilisation, et de l'avenir de cette civilisation" (50). Über die von den Römischen Verträgen vorgegebene "dimension communautaire" hinaus (18) musste sich Europa seines Erachtens auch politisch einigen, und zwar auf der Ebene der Regierungen, um seinen Verpflichtungen gegenüber der Welt nachkommen zu können.
Ein gewisses Maß an Autonomie erwarb Pompidous Europapolitik seit der von de Gaulle 1965 vom Zaun gebrochenen "Krise des leeren Stuhls". Schon vorher hatte er die Arbeit der dem General missliebigen Europäischen Kommission als "bien" gewürdigt (91); nun wirkte er dezidiert beruhigend auf die politischen, landwirtschaftlichen und industriellen Kreise und trachtete danach, die Tür zur EWG für die beitrittswilligen Kandidaten offenzuhalten. Anfang 1968 formulierte er, wenn nicht ex-, so doch implizit, jenen Dreischritt aus Vollendung des Binnenmarktes, Vertiefung und Erweiterung der EWG, der kurz nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten auf dem Haager Gipfel vom Dezember 1969 Kontur gewinnen sollte: "l'achèvement", "l'appronfondissement", "l'élargissement"(166).
Nach dem Jahreswechsel rückte "l'homme de La Haye" (143) Europa ins "centre de notre politique" (244), wobei die politische Zusammenarbeit der Neuner-Gemeinschaft zu einer zweiten Achse wurde. Zentrale Bedeutung gewann dabei vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik der beiden Supermächte und der misstrauisch beäugten "neuen" Ostpolitik Willy Brandts die Aufnahme Großbritanniens in die EWG. Im Mai 1971 verständigte sich Pompidou in höchst vertrauensvollen Gesprächen mit Premierminister Heath nicht nur auf den britischen Beitritt, sondern auch generell darauf, "construire une Europe, composée de nations soucieuses de maintenir leur identité mais décidées à travailler ensemble pour atteindre une unité véritable, d'abord dans le domaine économique et progressivement dans tous les autres, y compris bien entendu dans le domaine politique" (194).
Der faktische Zusammenbruch der Währungsordnung von Bretton Woods Mitte August 1971, das enttäuschende Ergebnis des französischen Referendums über die Erweiterung der EWG im April 1972 und die Entscheidung Großbritanniens vom Juni desselben Jahres, die neu geschaffene Währungsschlange zu verlassen, unterminierten indes Pompidous Plan. Zwar verständigten sich die Staats- und Regierungschefs der EWG auf ihrem Gipfeltreffen in Paris im Oktober 1972 in seinem Sinne auf das Ziel, "de transformer [...] l'ensemble des relations des Etats membres en une Union européenne" (354). Der Vorstoß der USA vom April 1973 in Richtung auf eine Neudefinition des transatlantischen Verhältnisses ließ jedoch abermals Risse im Gebäude der EWG aufscheinen. Wenngleich Pompidous Werben um mehr Gemeinsamkeit im Dezember in eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs über die europäische Identität mündete, führte ihm der tiefe Dissens der Neuner-Gemeinschaft in der kurz zuvor ausgebrochenen Erdölkrise schmerzlich vor Augen, wie dünn das Eis der Solidarität tatsächlich war. Frankreichs Austritt aus der Währungsschlange Mitte Januar 1974 und seine Isolierung während der Washingtoner Energiekonferenz im Februar ließen Pompidous europapolitische Bilanz am Ende recht mager ausfallen. Ob dieses Ergebnis möglicherweise weniger dem Handeln des todkranken Präsidenten denn der intransigenten Haltung seines agilen Außenministers Michel Jobert geschuldet war, wird in den Dokumenten nicht erhellt.
Abgesehen von manch störender Wiederholung in den Einführungen und Regesten der Herausgeber und der einseitig ganz auf Pompidou ausgerichteten Auswahl bietet die Quellensammlung hochinteressante Einblicke in eine turbulente Phase französischer Außenpolitik.
Anmerkungen:
[1] Association Georges Pompidou : Georges Pompidou et l'Europe. Colloque 25 et 26 novembre 1993, Bruxelles 1995.
[2] Zum Teil wurden diese Dokumente schon in Pompidous posthum veröffentlichtem Werk Entretiens et discours 1968-1974, Bd. 2, Paris 1975, abgedruckt.
Ulrich Lappenküper