Michael Rathmann (Hg.): Studien zur antiken Geschichtsschreibung (= Antiquitas. Reihe 1: Abhandlungen zur Alten Geschichte; Bd. 55), Bonn: Verlag Dr. Rudolf Habelt 2009, x + 309 S., ISBN 978-3-7749-3498-6, EUR 79,00
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Anders als der Titel verspricht, bietet der vorliegende Band nicht gleichgewichtige Einblicke in die verschiedenen Epochen der antiken Historiographie. Vielmehr beschäftigt sich die Mehrheit der Autoren, großenteils ausgewiesene Kenner ihres Faches, mit den Historikern der griechischen Klassik und des Hellenismus - was den Interessen und Verdiensten des Widmungsträgers Gerhard Wirth entgegenkommen mag. Nur die letzten beiden Artikel betreffen die römische Kaiserzeit und die Spätantike, deren Erforschung dem Geehrten ebenfalls einiges zu verdanken hat. [1] Nichtsdestotrotz werden die meisten Aufsätze, inhaltlich anregend und methodisch präzise, auch für thematische Einsteiger von Interesse sein.
Den Auftakt der Sammlung bilden zwei Untersuchungen zu Herodot und Thukydides. Klaus Rosen (1-12) erkennt im viel diskutierten Schlusskapitel der Historien (9,122) zeitgenössische Kritik Herodots an der athenischen Politik. Wolfgang Will (13-24) revidiert die Beurteilung des bislang in der Forschung als positiv bewerteten Spartabildes des Thukydides. Trotz des Objektivitätsanspruchs des Historikers gründeten sich die positiven Züge Spartas, Respekt gegenüber seiner Verfassung und das Lob einzelner Spartaner in einem antispartanischen Grundton, den er - auch vor dem Hintergrund der spartanischen Herrschaft in Athen - als Schlüssel zum Verständnis des Werkes ansieht.
Bei den beiden folgenden Beiträgen handelt es sich um strukturgeschichtliche Untersuchungen auf einer breiteren Quellenbasis. Jan Timmer (25-53) erörtert den Diskurs über die Legitimation der attischen Demokratie im 5. und 4. Jahrhundert und die Strategien, mit denen man auf die Mängel in der Verfassung reagierte. Winfried Schmitz (55-84) liefert mit seiner Analyse der Darstellung von Kriegsopfern in der antiken Historiographie am Beispiel von Xenophons Hellenika einen wichtigen Beitrag in der jüngeren Debatte um Gewalt in der Antike. In Anlehnung an die Vorstellung von der Möglichkeit der kulturellen Überwindung von Krieg nach Eibl-Eibesfeldt/Stietencron und Maier [2] konstatiert er, dass das Leiden der Opfer hinter der Heroisierung des Siegers zurücktritt und einzig der Illustrierung seiner taktischen Überlegenheit dient. Damit kommt er für die Historiographie zu einem ähnlichen Ergebnis wie Muth mit Blick auf die Vasenmalerei. [3]
Die drei Beiträge zu Alexander und den Alexanderhistoriographen zeichnen sich durch intensive und gut nachvollziehbare Quellendiskussionen anhand einzelner zentraler Probleme der Alexanderforschung aus. Sie werden angeführt von Stefan Schrumpfs Untersuchung der Historizität des diplomatischen Austausches zwischen Alexander und Dareios nach der Schlacht von Issos (85-133). Konrad Vössing (135-160) widmet sich der Proskynese in Baktra, die er in Anlehnung an eine These Paul Schnabels als versuchte Einführung eines persischen Feuerkultes zur Ehrung des Königs deutet. [4] Moritz Böhme (161-186) untersucht das Bild der Perser in den Fragmenten der zeitgenössischen Alexanderhistoriker und deren Schwierigkeiten, von den traditionell negativen Klischees abzurücken und dem Gesinnungswandel Alexanders, den Böhme für die Zeit nach dem Tode des Dareios ansetzt, gerecht zu werden. [5] Um Licht ins Dunkel der Bandbreite der hellenistischen Universalgeschichte und Kulturgeographie zu bringen, nimmt sich Johannes Engels (187-202) des Werkes des Demetrios von Kallatis, eines weitgehend vernachlässigten Historikers, an und zeigt differenziert und überzeugend, wie aus der geringen Quellenbasis der wenigen indirekt überlieferten Fragmente und Testimonien dennoch auf einen breiten thematischen, chronologischen und geographischen Umfang des Werks Peri Asias kai Europes geschlossen werden kann. Mit einem zentralen Problem um Polybios befasst sich dagegen Jörg-Dieter Gauger (203-227), der die Frage um die Authentizität der Reden am umstrittenen Beispiel der Agelaos-Rede aufgreift und u.a. mittels der Abgrenzung von der thukydideischen Tradition für ihre Originalität eintritt. [6]
Die römische Historiographie wird in diesem Sammelband vorrangig mit Blick auf die hohe Kaiserzeit betrachtet. Jörg Fündling (235-260) bemüht sich mittels einer sorgfältigen Analyse des breiten Quellenspektrums um die Rehabilitierung des Lucius Verus, des jüngeren Adoptivbruders und Mitkaisers Marc Aurels. [7] Die Ursachen für die übertriebene Darstellung des Lucius als Lebemann, die auch sein Bild in der modernen Forschung weitgehend prägt, sieht Fündling v.a. in der Abwertung des Parthersiegers nach seinem Tod 169. Der Vergleich der duo Augusti musste nun, wie sich in der historiographischen Tradition widerspiegelt, zugunsten Marc Aurels ausfallen.
Den krönenden Abschluss der Sammlung bildet ein überraschender Einblick in die Funktion historiographischer Stilelemente im Carmen Paschale des Sedulius. Silke Diederich (261-286) trägt mit der Analyse der Wechselwirkungen verschiedener gattungsimmanenter Intentionen der Historiographie, Rhetorik und Epik mit den heilsgeschichtlichen Absichten des Werkes wesentlich zum Verständnis der Gattung der Bibelepik bei. [8]
Mit drei Registern zu Quellen, Personen und Geographie endet der Band, der ambitioniert eine Gattung über den Zeitraum von tausend Jahren zu erfassen sucht und dabei breit angelegte und tiefgehende Einblicke in ausgewählte Epochen, Themen und Autoren bietet.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Wirth hat sich besonders um die Geschichte des Hellenismus verdient gemacht, u.a. Studien zur Alexandergeschichte. Darmstadt 1985; Philipp II. Stuttgart 1985; Diodor. Griechische Weltgeschichte XI-XIII. Stuttgart 1998. Zur Spätantike u.a. Attila. Das Hunnenreich und Europa, Stuttgart 1999.
[2] Heinrich von Stietencron: Töten im Krieg: Grundlagen und Entwicklungen, in: Ders./Jörg Rüpke: Töten im Krieg. Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 6, Freiburg /München 1995, 17-65; Franz Georg Maier: Neque quies gentium sine armis. Krieg und Gesellschaft im Altertum, Opladen 1987.
[3] Susanne Muth: Zwischen Pathetisierung und Dämpfung. Kampfdarstellungen in der attischen Vasenmalerei des 5. Jahrhunderts v. Chr., in: Günter Fischer / Susanne Moraw (Hrsg.): Die andere Seite der Klassik. Gewalt im 5. und 4. Jahrhundert, Stuttgart 2005, 185-209; Als die Gewaltbilder zu ihrem Wirkungspotential fanden, in: Bernd Seidensticker / Martin Vöhler (Hrsg.): Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik, Berlin / New York 2006, 260-293.
[4] Paul Schnabel: Die Begründung des hellenistischen Königskults durch Alexander, in: Klio 19 (1924), 113-127; Zur Frage der Selbstvergötterung Alexanders, in: Klio 20 (1926), 398-414.
[5] Eine neue Perspektive bietet Sabine Müllers Analyse der differenzierten Rezeption der frühen Perserkönige in der makedonischen Erinnerungskultur unter Alexander (in: Gymnasium (2011), im Druck).- Den Bellum Iustum-Begriff sollte Böhme nicht im makedonischen Kontext verwenden bzw. zur Erläuterung der Tendenz des Geschichtswerks des Kallisthenes angesichts seines spezifisch römischen Herkunftskontextes und seiner rituellen Implikationen, die nicht vom Begriff der Wiedergutmachung zur Begründung eines Krieges, zu trennen sind.
[6] Gegen Hans-Ulrich Wiemer: Rhodische Traditionen in der hellenistischen Historiographie, Frankfurt 2001, 56.
[7] Fündling grenzt sich dabei ab von Pierre Lambrechts: L'empereur Lucius Verus. Essai de réhabilitation, Antiquité Classique 3 (1934), 173-201, deutsch: Der Kaiser Lucius Verus. Versuch einer Rehabilitierung, in: Klein, Richard (Hg.): Marc Aurel (Wege der Forschung 550), Darmstadt 1979, 25-57.
[8] Zu Einordnung der Gattung in die epische Tradition s. Roger P.H. Green: Latin Epics of the New Testament. Juvencus, Sedulius, Arator, Oxford 2006.
Valeria Lilie