Adelheid von Saldern: Netzwerkökonomie im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser (= Beiträge zur Unternehmensgeschichte; Bd. 29), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 363 S., ISBN 978-3-515-09369-9, EUR 50,00
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Adelheid von Salderns Buch über die frühindustrielle Dürener Unternehmerfamilie Schoeller hat eine Entstehungsgeschichte eigener Art. Die Autorin hatte schon vor mehr als 40 Jahren damit begonnen, den ungewöhnlich reichhaltigen familiär-geschäftlichen Quellenfundus im Stadt- und Kreisarchiv Düren für eine Monographie auszuwerten. Nach ihrer Emeritierung 2004 griff sie das auf Eis gelegte Vorhaben wieder auf und präsentiert nun eine wirtschafts- und kulturgeschichtliche Fallstudie zur "Netzwerkökonomie" im frühen 19. Jahrhundert. Man kann sich vorstellen, dass dabei ein ganz anderes Buch herausgekommen ist, als wenn das Manuskript schon in den späten 1960er Jahren fertig gestellt worden wäre. In ihrer methodisch-theoretischen Herangehensweise und ihren erkenntnisleitenden Interessen bewegt sich Adelheid von Saldern ganz auf der Höhe der Jetztzeit. Der Erforschung von "Netzwerken" als wirtschafts- und sozialhistorischen Strukturphänomenen hat sich in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Historikern gewidmet. Und auch bei der Auswahl der wirtschaftswissenschaftlichen und soziologischen Theorieangebote befindet sich die Autorin im aktuellen Mainstream der historischen Forschung.
Ein wesentlicher Zugang zum Thema "Netzwerkökonomie" erschließt sich in von Salderns Studie über einen Schlüsselbegriff der "Neuen Institutionenökonomik" (NIÖ), die "Transaktionskosten". Der NIÖ geht es um die Hinterfragung von Grundannahmen der neoklassischen Nationalökonomie, nämlich dass die neuzeitliche Marktwirtschaft sich auf völlig transparenten Märkten vollziehe und dass die Koordination der Tauschvorgänge zwischen Unternehmen und Markt kostenlos sei. Die Neue Institutionenökonomik geht dagegen davon aus, dass für Unternehmen immer "Transaktionskosten" anfallen. Damit sind primär die Informationskosten auf einem niemals völlig übersichtlichen Markt und die Kosten für die fortwährende Neufestlegung von Verfügungs- und Handlungsrechten, speziell in Verträgen, und deren faktische Durchsetzung gemeint. Im Lichte dieser Theorie erscheint die Bildung von Netzwerken zwischen den Unternehmen bzw. individuellen Wirtschaftsakteuren gerade in der Formierungsphase der modernen industriellen Marktwirtschaft als Mittel zur Reduktion von Transaktionskosten. Über Netzwerke werden Informationen über Märkte und Marktteilnehmer ausgetauscht. Netzwerke generieren Vertrauen - und senken damit die Kosten von Verträgen und deren Durchsetzung.
Der zweite wesentliche theoretische Ansatzpunkt der Studie, das Konzept der "Kapitalsorten", stammt aus der Kultursoziologie Pierre Bourdieus. Durch die Einbindung in Netzwerke sammeln Wirtschaftsakteure "soziales Kapital" an und verbessern damit ihre Chancen zur Akkumulation "ökonomischen Kapitals". Eine tragende Rolle bei der Knüpfung von Netzwerken und überhaupt bei der Generierung und Weitergabe von "Kapital" im Sinne Bourdieus spielt die Familie. Sie bildet daher auch den Kern und Ausgangspunkt von Salderns Studie zur Netzwerkökonomie. Die Protagonisten der Untersuchung sind im Wesentlichen die unternehmerisch aktiven Männer in zwei bzw. drei Generationen der Unternehmerfamilie Schoeller. Die verschiedenen Zweige der Familie waren ursprünglich im Tuchgewerbe und Wollhandel des Düren-Aachener Raums tätig. Im Laufe des Untersuchungszeitraums 1770-1850 weiteten sich die Geschäfte der Protagonisten sowohl räumlich als auch branchenmäßig aus, und einige von ihnen machten auch den Schritt vom Verleger und Kaufmann zum industriellen Fabrikanten.
Die großen Entwicklungslinien der Unternehmungen der Schoellers verfolgt Adelheid von Saldern im ersten Kapitel. Hier geht es um Unternehmens- und Investitionsstrategien, um Erfolg und Misserfolg unternehmerischen Wirkens. Im zweiten Kapitel nimmt die Autorin die interne Entwicklung der Schoellerschen Unternehmen und Textilien und Papier produzierenden Betriebe in den Blick, die betriebswirtschaftliche Praktiken (Einkauf, Vertrieb, Technikausstattung) wie die Arbeitsbeziehungen. Im dritten Kapitel wird die Vertretung unternehmerischer Interessen im lokalen und regionalen Raum untersucht. Die thematischen Schwerpunkte liegen dabei auf der Auseinandersetzung mit den Zünften, den Konflikten um Wasserressourcen sowie dem kommunalen Engagement der Protagonisten. Das vierte Kapitel widmet sich der familialen und verwandtschaftlichen Netzwerkbildung und den Binnenbeziehungen innerhalb der verzweigten Unternehmerfamilie. Im fünften Kapitel beschäftigt sich von Saldern mit Normen und Praktiken im Geschäftsverkehr: der Kommunikation zwischen den Netzwerkakteuren, dem Austausch von Information und der gegenseitigen Hilfestellung, aber auch den Netzwerkkrisen und den Grenzen des Zusammenhalts. Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels stehen die Fragen nach den Werten und Normen der Protagonisten, ihren Selbstbilder und den Charakteristika ihrer Wirtschaftsbürgerlichkeit.
Adelheid von Saldern gelingt es in der vorliegenden Studie, die Bedeutung von Netzwerken für die frühindustrielle Unternehmerschaft auf unterschiedlichen Handlungsebenen herauszuarbeiten und empirisch zu belegen. Sie unterscheidet drei Formen von Netzwerken, die sich teilweise überlappten: (1.) das Familien- und Verwandtennetzwerk, (2.) das lokale und regionale "Governance"-Netzwerk, das z. T. ebenfalls auf verwandtschaftlichen Bindungen beruhte, und (3.) das regionale und überregionale Branchennetzwerk. Dabei konstatiert die Autorin, dass das Verwandtennetz in der Regel besser und länger hielt als die anderen Netzwerkformen, obwohl auch hier Spannungen, Brüche, Ambivalenzen und Verweigerungen durchaus nicht selten waren. Der hohe Stellenwert der "Verwandtschaftsökonomie" unterstreicht die oft betonte Rolle der Familie in der Entwicklung frühindustrieller Unternehmen. Die Aufbringung von Kapital, die Besetzung von Vertrauenspositionen im Unternehmen, die gegenseitige Hilfeleistung in Notsituationen u. a. m. vollzog sich überwiegend im Netzwerk von Familie und Verwandtschaft. Dagegen war man bei der Beschaffung von Informationen über das Geschehen auf entfernten Märkten, über die Kredit- und Vertrauenswürdigkeit potenzieller Geschäftspartner oder neue technologische Entwicklungen stärker auf familienfremde Akteure angewiesen, vor allem auf Kommissionäre und Reisende. Ging es um Auskünfte über Dritte, so spielte der wechselseitige Informationsaustausch zwischen finanziell etablierten Netzwerkakteuren, also gegebenenfalls auch Konkurrenten, eine zentrale Rolle.
Eine umfassende Darlegung der Befunde würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Hier liegt denn auch ein Kritikpunkt an von Salderns Arbeit. Die Autorin beackert ein breites Spektrum von Themenfeldern und verliert des Öfteren den Bezugspunkt der Netzwerkökonomie aus den Augen. Offenbar hat sie hier nicht immer der Versuchung widerstanden, das ganze Potenzial ihres Quellenfundus ausschöpfen zu wollen. Daher erfährt man recht ausführlich von den Rede- und Schreibweisen der Protagonisten über private und politische Angelegenheiten oder über die Konstruktion von wirtschaftsbürgerlicher Männlichkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies erscheint aber angesichts der ansonsten sehr gelungenen Arbeit als lässliche Sünde.
Michael Schäfer