Hermann Ehmer / Sabine Holtz (Hgg.): Der Kirchenkonvent in Württemberg (= Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte; Bd. 21), Epfendorf: bibliotheca academica 2009, 349 S., ISBN 978-3-928471-75-6, EUR 39,00
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Hätte es die württembergischen Kirchenkonvente nicht gegeben, man müsste sie erfinden: Die vielerorts relativ kontinuierliche protokollarische Überlieferung dieser lokalen, für Sittenzucht und Armenfürsorge verantwortlichen Institution (die de jure zwischen 1642 und 1891 bestand) ermöglicht es, gesellschaftliche Machtverhältnisse, Mentalitäten und ökonomische Praktiken auf der Mikroebene detailliert zu rekonstruieren. In einer weiter gefassten Perspektive scheint sich hier geradezu idealtypisch die These einer Verflechtung von Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung zu bestätigen.
Bei näherem Hinsehen stellt das Phänomen Kirchenkonvent allerdings gängige Annahmen infrage: Helga Schnabel-Schüle hat in einem mittlerweise klassischen Aufsatz [1] auf die scheinbare Paradoxie hingewiesen, dass das dezidiert lutherische Württemberg [2] eine derart rigorose Kirchenzucht einführte, wie sie gemeinhin allein mit dem reformierten Kirchenwesen verbunden wird. Gleichzeitig hat sie Genese und Funktionsweise der Kirchenkonvente rekonstruiert: Die These eines Imports der Institution aus dem calvinistischen Genf wies sie abschließend zurück; Schnabel-Schüle zeichnete vielmehr die bereits während der Reformation in Württemberg begonnenen Diskussionen über eine Erneuerung kirchlicher Gerichtsbarkeit nach, die zunächst zur Festigung der bereits zuvor konzipierten Rüggerichte führten. Die Einrichtung der Kirchenkonvente im engeren Sinne ist in Kontinuität hierzu und vor dem Hintergrund einer nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges wieder höheren Wertschätzung der kirchlichen Strafgewalt von Seiten der Obrigkeit zu sehen (42). Freilich verhängten die Konvente ebenfalls nur weltliche Strafen (das heißt, der Abendmahlsausschluss blieb dem Konsistorium vorbehalten; anders im Beitrag von M. Brecht, 115). Ihre Einrichtung bedeutete einen Teilerfolg der Theologen in ihrem Konflikt mit den weltlichen Räten um die Handlungsmacht bei der Kirchenleitung, war aber gleichzeitig auch das effektivste Mittel zur Durchsetzung obrigkeitlicher Polizeigerichtsbarkeit vor Ort.
Der These, dass Kirchenstrafen im lutherischen Rechtsverständnis stets subsidiären Charakter gegenüber der 'politischen' bzw. säkularen Strafpraxis hatten (31; vgl. im Beitrag von H. Ehmer, 101), ist unbedingt zuzustimmen. Dass damit die Intention einer Reinhaltung der Abendmahlsgemeinschaft in die "Idee der Aufrechterhaltung guter Ordnung im Gemeinwesen", die Gottes Zorn wehren sollte, "transformiert" worden sei (32), scheint aber eine übertriebene Folgerung (vgl. anders auch im Beitrag von H. R. Schmidt, 301). Man sollte eher von einer Akzentverschiebung in der theologischen Diskussion des Strafzwecks sprechen.
Den zu besprechenden, insgesamt gelungenen Sammelband eröffnet ein leicht überarbeiteter Wiederabdruck von Schnabel-Schüles Aufsatz. Es folgt ein Beitrag von Hermann Ehmer, der akribisch die Vorgeschichte des Reskripts von 1642 untersucht und anders als Schnabel-Schüle auf einer entscheidenden Mitwirkung Johann Valentin Andreaes insistiert. Eine umfangreiche Dokumentation zur Praxis des Kirchenkonvents in Urach aus der Feder Martin Brechts [3] eröffnet dann die Reihe lokaler Fallstudien. Brecht präsentiert Material in Fülle und vergegenwärtigt die Lebenswelt der schwäbischen Kleinstadt in all ihren sozialen, religiösen und ökonomischen Aspekten. Nach Entwicklungsdynamiken während des langen Untersuchungszeitraums fragt er nicht - dem Leser wird das Bild einer zwischen Dreißigjährigem Krieg und Wilhelminischem Zeitalter stillgestellten Gesellschaftsordnung vermittelt.
Eine solche Einseitigkeit zu vermeiden, fällt angesichts des seriellen Quellenbestands nicht leicht. Die übrigen Autoren versuchen, hier Wege zu finden: Martin Carl Häußermanns Schilderung der sozialen Fürsorge durch den Waiblinger Kirchenkonvent konzentriert sich auf die Institutionengeschichte. Häußermann zeigt, dass die Waiblinger es sich einiges kosten ließen, nicht von der zentralen landesfürstlichen Armenkasse abhängig zu werden (192). Hans-Martin Widmann räsoniert anhand der Derendinger Protokolle darüber, was die Kirchenkonventspraxis zu einer sozialgeschichtlichen Erforschung von Jugend und Kindheit beizutragen hat.
Die anschließenden beiden Aufsätze, die auf Tübinger Magisterarbeiten basieren, zeichnen sich durch eine klare Methodik aus: Stichprobenweise werden Zeitblöcke untersucht und anhand eines differenzierten Kategoriensystems analysiert. Stefanie Palm folgert anhand des Laichinger Befunds aus dem 18. Jahrhundert, stark von allgemeinen Ergebnissen der Policey- und der Kriminalitätsforschung geleitet, ein Resignieren der Obrigkeit bei bestimmten Delikten oder aber einen Rückzug aus dem Alltagsleben als Ausdruck von Säkularisierung (243). Jedenfalls bildeten Sozialfürsorge und Verwaltung im Verlauf des Jahrhunderts immer deutlicher den Tätigkeitsschwerpunkt des Konvents. Ob dies tatsächlich eine Konzentration auf die "durch die Aufklärung neu definierten 'Kernaufgaben' der Kirche" (256) bedeutete, ist zweifelhaft. In der administrativen Praxis waren die kollegialistischen Kirchenrechtstheorien jedenfalls zu dieser Zeit noch nicht angekommen. Palms Interpretation schließt an die überzeugenden Ergebnisse von Susanne Claußen an, die 2002 die Tätigkeit des Holzgerlinger Kirchenkonvents zwischen 1700 und 1846 rekonstruiert hatte und hier eine Zusammenfassung bietet: Der Konvent wandelte sich allmählich "von einem Instrument der Sittenzucht zu einem Verwaltungsorgan" (207), verlor den Charakter der Strafgerichtsbarkeit, wurde seltener von der Bevölkerung als Konfliktlösungsinstanz genutzt und entwickelte sich immer deutlicher zu einer Instanz, die zielgerichtet Angelegenheiten von Frauen, Armen und Minderjährigen regelte und in der die gesellschaftliche Führungsschicht bereits Anfang des 19. Jahrhunderts nur noch als Richter, aber nicht mehr als Beklagte fungierte (219). Ihre Beobachtungen vertieft Claußen anhand der beiden Delikte Fluchen bzw. Schwören und Sonntagsentheiligung.
Eine interkonfessionelle Vergleichsperspektive eröffnet der Beitrag von Heinrich Richard Schmid, dem die aktuelle Diskussion über Sozialdisziplinierung entscheidende Einsichten verdankt. Schmid betont einmal mehr das "Übergewicht des Lokalsystems" über die fraglos ebenfalls wichtigen Impulse der zentralen Territorialgewalt (313) und folgert aus dem Vergleich zwischen Kirchenkonventen und reformierten Chorgerichten, dass mit nur unwesentlichen konfessionsspezifischen Abweichungen "die Interessen der Betroffenen an der Regelung ihrer Konflikte im Alltag das zentrale Motiv für das Funktionieren der Presbyterien darstellten" (307). Das deckt sich mit den Ergebnissen der vorhergehenden Fallstudien, zumindest für die Zeit bis Mitte des 18. Jahrhunderts. Sabine Holtz stellt dementsprechend in ihrem Beitrag den normativen Vorstellungen der Bevölkerung die theologischen Ordnungsentwürfe gegenüber, die die Geistlichen Sonntag für Sonntag in ihrer Predigt entfalteten. Die einfachen Leute übernahmen nur, was mit den lebensweltlich vertrauten Normen kompatibel war (324), während die kirchlichen Vorgaben Wertehorizont und Alltagspraxis der bürgerlichen Schichten deutlich mehr entsprachen (330) - eine diskutierenswerte These.
Holtz mahnt an, nach dem Vorbild der Kriminalitätsforschung auch bei den Kirchenkonventen näher Strategien der Justiznutzung und -vermeidung zu untersuchen (329). Weitere kirchen- und rechtsgeschichtliche Fragen bleiben zu klären: Wie veränderte sich im Verlauf der Frühen Neuzeit der materiale Bereich der 'Sacra' oder 'Kirchensachen', der die Handlungsgrundlage für die Kirchenkonvente bildet; wie der Normrekurs? Kamen die von Schnabel-Schüle geschilderten, an der jeweils vorherrschenden Kirchenrechtstheorie ausgerichteten theoretischen Begründungen für die Kirchenkonventspraxis im 18. und 19. Jahrhundert (52-59) im Handeln der Funktionäre zum Ausdruck? Wie verlief die Einrichtung katholischer Kirchenkonvente in den hinzugewonnenen Territorien des Königreichs Württemberg? Wie hing das Ende der Kirchenkonvente mit dem Institutionalisierungsschub der modernen Landeskirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen? Auf einen Fortgang der Forschung ist also zu hoffen.
Anmerkungen:
[1] Helga Schnabel-Schüle: Calvinistische Kirchenzucht in Württemberg? Zur Theorie und Praxis der württembergischen Kirchenkonvente, in: ZWLG 49 (1990), 169-223. Um die Bezugnahmen der übrigen Beiträge auf diesen Aufsatz zu überprüfen, bleibt der Leser auf das Original verwiesen, da die Seitenangaben nicht mit dem Wiederabdruck im selben Band synchronisiert wurden.
[2] Zur nach wie vor unklaren Herkunft des Diktums 'lutherisches Spanien' (17) zwei bisher nicht beachtete Indizien: Die Bezeichnung Württembergs als "'das protestantische Spanien'" (in Anführungszeichen), die sich angeblich "in der nicht württembergischen Literatur" findet, verwendet bereits Gustav Schmoller, Art.: Rümelin, Gustav von, in: ADB, Bd. 53 (1907), 608. Während die hier genannten Quellen zu identifizieren bleiben, ist eine zentrale Quelle des Begriffs 'protestantisches Spanien' im 19. Jh. - und zwar mit deutlich abweichender Konnotation, nämlich in Bezug auf die Judenpolitik des napoleonischen Sachsen - ohne Zweifel Heinrich Graetz: Geschichte der Juden vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848) (= Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Aus den Quellen neu bearbeitet, Bd. 11), Leipzig 1870, 318: "Man nannte Sachsen mit Recht das protestantische Spanien für die Juden."
[3] Brecht hat seinerzeit einen wesentlichen Impuls für eine eigenständige historische Rekonstruktion der Kirchenzuchtpraxis jenseits der eher rechts- und verwaltungsgeschichtlich geprägten Kirchenordnungsforschung gegeben; vgl. ders.: Kirchenordnung und Kirchenzucht in Württemberg vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 1967.
Johannes Wischmeyer