Franz-Xaver Kaufmann: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg: Herder 2011, 200 S., ISBN 978-3-451-32384-3, EUR 14,95
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Unter dem Eindruck des annus horribilis 2010 hat der Verfasser, ein seiner Kirche tief verbundener Katholik, seine Berliner Guardini-Vorlesungen aus dem Jahre 1999 noch einmal drucken lassen - die Erstausgabe (2000) ist erweitert und um ein aktualisierendes Kapitel ergänzt. Als "gläubige[r] Soziologe" hat er sich dabei die Aufgabe gestellt, einen "Spagat" zu vollführen, nämlich seinen Gegenstand rein immanent, ohne "Glaubenshorizonte" zu traktieren (11). Eine knappe Analyse des Bedeutungsverlustes, den das kirchlich verfasste Christentum in Deutschland z.Zt. erleidet, bildet den Anlass von Kaufmanns Leitfrage: "Wie überlebt das Christentum die Moderne?" (17). Seine Antwort lautet: Durch Reformen, die das Papsttum als wichtigste religiös-moralische Autorität der Gegenwart, gestützt auf die ihm eigenen dogmatischen und rechtlichen Vollmachten (143f.), durchsetzen soll, wozu es zunächst seine eigenen überständigen Herrschaftsstrukturen und Arbeitsabläufe gründlich zu reorganisieren hätte (144-150). Auffällig hieran ist, mit welcher Umstandslosigkeit der Verfasser immer wieder "Christentum" und (römischen) Katholizismus gleichsetzt, und dieser Identifikation, nicht etwa einer wirklich entschränkenden Perspektive, ist auch seine Option für "Christentumsgeschichte" statt "Kirchengeschichte" (44-47) geschuldet: Das Christentum ist ihm das katholische, und für andere Kirchen interessiert er sich so gut wie nicht.
Um die Reform zu befördern, will Kaufmann "das historische Bewusstsein unter den Christen [...] stärken" und damit einen Beitrag gegen dessen "Verdrängung in den Selbstbeschreibungen der römisch-katholischen Kirche" (18) leisten: Kirchliche Organisationsstrukturen sind keine Abbilder transzendenter Urbilder, sondern in der Zeit entstanden und werden mit der Zeit anderen Platz machen - so die Argumentationsstrategie. Und die bringt es mit sich, dass Kaufmann in drei Kapiteln einen straff akzentuierten Gang durch die Kirchengeschichte unternimmt.
Hier zeigt sich, dass seine Identifikation von Christentum mit Katholischer Kirche erhebliche strukturelle Wahrnehmungsdefizite erzeugt, die sich auch Kaufmanns Diagnosen und Therapievorschlägen für den Katholizismus der Gegenwart einprägen: Spezifisch katholische Phänomene, die in einer wirklich christentumsgeschichtlichen Perspektive auffällig und erläuterungsbedürftig wären, nimmt er durchweg als ganz selbstverständlich gemeinchristlich an.
In seinem Kapitel über die Alte Kirche, das unter der Leitfrage nach dem "historischen Erfolg des Christentums" steht, kommt die Entstehung der katholischen Kirche mit ihrem rigorosen Alleinvertretungsanspruch auf den Christennamen und der straffen, autoritären Organisation ihrer Gemeinden nicht vor: Sie war wohl für Kaufmann virtuell schon im Kreise derer präsent, denen sich der Gekreuzigte als der Auferstandene erschloss.
Zwangsläufig wird mithin auch das Bild des konstantinischen Zeitalters schief: Der Kaiser und seine Nachfolger privilegierten nicht "das Christentum" in der heute dem Historiker sich erschließenden Fülle seiner Erscheinungsformen, sondern eben diese Katholische Kirche - und fortan war deren schon zuvor reich ausgebildete antihäretische Literatur nicht mehr bloß rechtlich und sozial folgenloses Polemisieren zwischen den verfeindeten Fraktionen einer Minderheit, sondern es kam zu drastischen Repressionsmaßnahmen seitens der Kaiser, die von bischöflichen Kirchenpolitikern wie Ambrosius und Augustin mal gefordert, mal durchgesetzt und mal gerechtfertigt wurden.
Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit spürt Kaufmann den christlichen Vorbereitungen der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte nach. Das 11./12. Jahrhundert bezeichnet er als "Achsenzeit, in der die Grundlagen für neuzeitliche Entwicklungen gelegt wurden" (65). Die Auffassung des Menschen als freier Person sei, so deutet Kaufmann an, durch einen Akt der Retrojektion aus der Gotteslehre hervorgegangen, welche den qualitativen Abstand Gottes zur Welt begrifflich strikt fasste. Ausführlicher geht Kaufmann auf den Beginn der Ausdifferenzierung des Herrschaftsbegriffs im Investiturstreit ein. Im Wormser Konkordat 1122 sieht er "die entscheidende Weichenstellung funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung" (63); mit Papst Bonifaz VIII. (gestorben 1303) sei diese Differenzierung dann bis zum II. Vaticanum wieder in Vergessenheit geraten (188) - zugunsten eines zuerst von Gregor VII. in seinem dictatus Papae formulierten Verständnisses des Papstamtes, welches dann das I. Vaticanum 1870 dogmatisierte (133). Hier stimmt nun gar nichts mehr: Die römische Kurie hat das Wormser Konkordat, das nie in eine kirchliche Rechtssammlung aufgenommen wurde, nur als ein Zeitumständen geschuldetes ärgerliches Zugeständnis angesehen. Der Kampf von Imperium und Sacerdotium ging weiter, und Innozenz III. (1198-1216) war doch wohl theoretisch wie praktisch der Vorkämpfer päpstlicher Universalherrschaft schlechthin! Und am Dictatus Papae war so gut wie nichts wirklich "neu": Gregor bündelte hier lediglich längst bestehende Rechtspositionen. Die Pfahlwurzel, auf der die Ansprüche des Papsttums beruhen, reicht bis in die Alte Kirche herunter!
Der Reformation attestiert Kaufmann, "sie habe zur erneuten Instrumentalisierung der christlichen Religion zu Zwecken der politischen Integration" (66) beigetragen, Motor des Fortschritts sei dagegen die jesuitische Staatstheorie/Widerstandslehre gewesen (68f.). Dass deren Gedanken über Volkssouveränität den Primärzweck hatten, im Dienste der Papstkirche "häretische" Herrschaft zu destabilisieren, erwähnt Kaufmann natürlich nicht. Den Puritanern gönnt er den Ruhm, ein individualistisches Verständnis der Freiheitsrechte entwickelt zu haben (69-72).
Spätestens an diesem Punkt wähnt man sich in die Zeit der historischen Kulturkampf-Apologetik und ihrer Großmeister Janssen, Paulus und Pastor zurückversetzt. Aber zu Unrecht: Kaufmanns Perspektive ist ja zumindest nicht offen antiprotestantisch, sondern lediglich ganz und gar katholizismuszentriert. Er will seinen katholischen Lesern zeigen, welche Reformimpulse in den Traditionen ihrer Kirche stecken: Die gegenwärtige, Reformen erschwerende Erscheinungsform des papstkirchlichen Zentralismus sei nicht dessen Wesen, sondern eine seiner Gestalten, die ihre Wurzeln in kontingenten Erfordernissen des 19. Jahrhunderts hat (85-89).
Kaufmanns Prognosen sind vage und blass, und das liegt daran, dass er sehr wortkarg wird, wenn es um die wirklich wesentlichen Impulse der christlichen Religion zur Deutung, Formung und Gestaltung menschlichen Lebens angesichts Gottes und der Ewigkeit geht: Seine Andeutungen über das beziehungslose Nebeneinander von Trinitätslehre als "Religion" für Theologen und einem strukturlosen Sammelsurium volksreligiöser Vorstellungen (124) sind abgründig. Wenn christliche Religion darin bestünde, dann wäre doch der gesamte Aufwand (nicht nur) dieses Buches an eine Nichtigkeit verschwendet! Durch Kaufmanns erklärte Absicht, als Soziologe "Glaubenshorizonte zu vermeiden" (11), ist diese Leerstelle nicht gerechtfertigt - oder was würde man von einem Buch sagen, das unter Ausblendung der Kernphysik über nukleare Stromversorgung räsonierte?
Erneuerungshoffnungen scheint Kaufmann auf die Orden zu setzen, sieht deren Situation in der Gegenwart jedoch als höchst prekär an (141, 174). Positiv schwebt ihm, vorbehaltlich kontingenter religiöser Erweckungen, eine päpstlich personalisierte Medienkirche als moralische Weltinstanz vor (123f.) - also ziemlich genau das, was Emanuel Hirsch in seinen Spätschriften als quälend langsam verwesenden Leichnam eines religiös abgestorbenen Christentums perhorreszierte.
Martin Ohst