Michael A. Obst: »Einer nur ist Herr im Reiche«. Kaiser Wilhelm II. als politischer Redner (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 14), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 481 S., ISBN 978-3-506-76925-1, EUR 60,00
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Mit Andreas Obsts 'Einer nur ist Herr im Reiche', basierend auf einer Düsseldorfer Dissertation, liegt die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung vor, die sich ausschließlich den Reden Wilhelms II. widmet. So unerfreulich der Gegenstand ist, verdient er zweifellos eine genaue Auseinandersetzung auch in diesem Umfang. Die Annahme, dass insbesondere die Reden Wilhelms II. zur Delegitimierung der Monarchie und - wenn auch kaum genau abzuschätzen - zur zunehmenden außenpolitische Isolierung Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg beigetragen habe, findet sich in der einschlägigen Forschung fast durchgängig.
Obsts Studie versteht sich als "klassisch historisch-politische Analyse" und interessiert sich für "Motive, Handlungen, Handlungsoptionen und -strategien" (10) der politischen Entscheidungsträger, insbesondere Wilhelms II. Der Band ist streng chronologisch strukturiert. Die einzelnen Kapitel orientieren sich an den gängigen Zäsuren und Themen des Wilhelminismus wie Bismarck-Entlassung, Neuer Kurs, Flottenbau etc. Anhand dieser Ereignisse versucht Obst, das Ineinandergreifen der Rhetorik Wilhelms II. und vorgelagerter politischer Probleme zu rekonstruieren. Zudem beschreibt er die Versuche, den Schaden kaiserlicher Wortäußerungen zu begrenzen. Dieses Verfahren bringt durchaus Neues zutage und verschafft andernorts nicht zu findende Einblicke in den aufgrund seiner informellen Strukturen notorisch schwer zu entwirrenden wilhelminischen Regierungsapparat. In diesen kontextualisierten Einzelfällen vermag Obst den Forschungsstand zu erweitern, auch über die Reden Wilhelms II. hinaus. Zahlreiche Reden, die bis auf wenige Ausnahmen immer noch aus der problematischen zeitgenössischen Überlieferung bekannt sind, werden zudem in ihren verschiedenen Fassungen herausgearbeitet. Überzeugend ist auch, dass die öffentlichen Reaktionen nicht streng nach Parteirichtungen analysiert werden und so deutlich wird, wie komplex und aus heutiger Sicht widersprüchlich die Linie zwischen Zustimmung und Ablehnung verlief.
Die Unfähigkeit Wilhelms II., auch nach unzähligen Lektionen ein Mindestmaß an diplomatischem Geschick nach innen und außen zu wahren, wird in der Darstellung von Obst noch einmal eindringlich deutlich. Wilhelm II. schaffte es fast nie, angemessen auf politische Tagesfragen zu reagieren. Obst zeigt auf, dass es durchaus einen Königsweg monarchischer Rhetorik gab. Jene Reden, die eng mit den zuständigen Stellen abgestimmt waren, stießen in der Regel auf ein positives Echo bzw. verursachten zumindest keinen Skandal. So sehr die Reden persönliche Äußerungen Wilhelms II. waren und insofern dessen Herrschaftsverständnis reflektieren, ist doch die eigentlich interessante Frage nach dem Wechselspiel zwischen dem Gesagten - bzw. in der Regel dem durch die Presse Überliefertem und der Rezeption durch die Öffentlichkeit. Obst geht ausdrücklich davon aus, dass die Reden als politisches Programm begriffen wurden. Es ließe sich aber durchaus auch vorstellen, dass Lernprozesse stattfanden und dass Bedeutung und Reichweite der Reden zunehmend realistisch, d.h. skeptisch eingeschätzt wurden. Dies gilt umso mehr angesichts des steten Wechsels kaiserlicher Themen und Meinungen.
Die umfassende Analyse der Reden Wilhelms II. stellt zweifellos eine beachtliche Leistung dar. Gleichwohl fällt die Lektüre nicht leicht. Dies liegt zum einen am Stoff selbst. Die bekannte Sprunghaftigkeit Wilhelms II. und eine äußerst flache Lernkurve des Kaisers - Obst konstatiert im Einklang mit der bisherigen Forschung lediglich eine gewisse öffentliche Zurückhaltung Wilhelms II. nach der Daily-Telegraph-Affäre des Jahres 1908 - machen es schwer, Linien zu ziehen. Andererseits mangelt es auch an entschlossenen Schwerpunktsetzungen des Autors und klar umrissenen Fragen an das Material. So urteilsfreudig Obst im Einzelnen ist, so sehr vermisst der Leser weitergehende Thesen zu einer Neuinterpretation der Reden, die auch die einzelnen Kapitel stärker in Beziehung zum Ganzen hätten setzen können. So sichtet Obst zwar in erheblichem Umfang neues Material, bleibt aber in seiner abschließenden Interpretation doch sehr eng an dem, was bereits bisher auf dünnerer Grundlage argumentiert wurde. Die Interpretation bleibt in starkem Maße der letztlich kaum zu beantwortenden Frage verhaftet, was Wilhelm II. wirklich gewollt habe. So sehr der Inhalt der Reden in den persönlichen Vorlieben und Idiosynkrasien Wilhelms II. zu suchen ist, so naheliegend erscheint doch auch, dass neben der Geltungssucht des Monarchen bestimmte strukturelle Merkmale erfüllt sein mussten, um aus den Reden ein noch wenige Jahrzehnte zuvor undenkbares mediales Phänomen zu machen. Dass Franz Joseph in Österreich oder Eduard VII. in Großbritannien das Mittel nicht einsetzen, sagt dabei über strukturell neue Möglichkeiten nichts aus. Eine stärkere internationale Einordnung bzw. ein etwas weniger zurückhaltender Blick in die vor- und nachwilhelminische Geschichte politischer Rhetorik hätten die Signifikanz des Gegenstandes schärfer hervortreten lassen.
Insgesamt bleibt die in der Materialerschließung sehr verdienstvolle Studie mehr als dies nötig wäre ihrem Interpretationsgegenstand verhaftet. Für die zukünftige Forschung zur politischen Geschichte des Kaiserreichs hat Obst jedoch zweifellos zahlreiche wichtige Anstöße gegeben.
Martin Kohlrausch