Werner Hofmann: Phantasiestücke. Über das Phantastische in der Kunst, München: Hirmer 2010, 320 S., 217 Farbabb., ISBN 978-3-7774-2941-0, EUR 98,00
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Um es vorwegzunehmen: Werner Hofmanns "Phantasiestücke" entfachen ein fulminantes Feuerwerk der phantastischen Kunst zwischen Mittelalter und Gegenwart, in dessen Nachbildern rationale Bildauffassungen wie leblose Schemen verblassen. Als Zündschnur dieses gleichermaßen sinnenfrohen wie intellektuell herausfordernden Spektakels erwies sich eine Reise des Autors in das südfranzösische Languedoc. So bilden die gegensätzlichen und doch komplementären Wandbilder von Odilon Redon in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei Fontfroide wie auch die Auseinandersetzung mit dem Bilderstreit der sektiererischen Albigenser das Zentrum eines persönlichen Erlebnisweges, an dessen Ende der vorliegende prachtvolle Farbtafelband steht.
Nach dem Verweis auf den Ikonoklasmus der Katharer ist es kein Zufall, dass Hofmann die Ursprünge der phantastischen Kunst gerade im 12. Jahrhundert ausmacht. In der bilderfeindlichen Kunstpolitik des Bernhard von Clairvaux, "die streng zwischen der Wahrheit des Bibelwortes und den Phantasiegeschöpfen unterschied" (49), erkennt er den Ausgangspunkt eines konsequenzenreichen Differenzierungsprozesses. Unter dem strengen Auge des Kreuzzugspredigers galten alle Bildwerke, die von Maß, Regel und Gesetz abwichen und nicht der Forderung nach eindeutiger Lesbarkeit und widerspruchsfreier Klarheit entsprachen, als abwegig, verführerisch, ja häretisch. Die Faszination für die "schöne Unschönheit" ("formosa deformitas"), die von den phantastischen Mischwesen und unheimlichen Fratzen ausging, lenke vom Studium der Schriften ab und befriedige in allzu vordergründiger Weise nur die ausschweifende Sehbegierde.
Hier nun treten die zwei verschiedenen Modi der Wahrnehmung und Darstellung zutage, die für Hofmanns Studie eine Scharnierfunktion einnehmen: die empirisch-mimetische Naturnachahmung einerseits, andererseits die phantastischen Gegenentwürfe, die nicht auf genauer Naturbeobachtung basieren, sondern ihren Ursprung in der subjektiven, künstlerischen Einbildungskraft nehmen. Indem das Phantastische durch "Abweichungen, Tabubrüche, Ausschweifungen und Regelverstöße" (16) definiert ist, setzt es "somit die Normen einer disziplinierten Kunstpraxis voraus, die sich an den empirischen Sachverhalten orientiert, also deren Maßstäblichkeit nicht mittels phantastischer Verfremdungen in Zweifel zu ziehen versucht. Illusionismus und Phantastik sind miteinander gekoppelt." (22) Ohne Regel kein Regelverstoß, ohne Empirie keine Phantasie, so ließe sich zusammenfassen, was nicht nur für das neuzeitliche "Phantasiestück", das der Verfasser begrifflich einer Wortschöpfung E.T.A. Hoffmanns entlehnt, kennzeichnend ist. Als Inbegriff dieser paradigmatischen Koexistenz von positivistischer Faktenwelt und imaginierter Traumwelt erscheint Hieronymus Bosch, der "gleichzeitig mit drei Wahrheiten [operiert]: mit den religiösen, von den Schriften her verbürgten, sodann mit den empirischen, die aus der neuen pragmatischen Erforschung der Wahrnehmungswelt resultieren, und schließlich mit seiner ureigenen künstlerischen Wahrheit, die mit den beiden anderen verschiedene Verfremdungen vornimmt." (40) Am Beispiel des Gartens der Lüste wird eine höchst subjektive, individualisierte Auffassung christlicher Heilslehre exemplifiziert, die sich als "Doppelsignatur von Versuchung und Versuch" zusammenfassen lässt. Nicht von ungefähr wähnt Hofmann im Lebenswerk von Hieronymus Bosch "alle Spielarten des Phantastischen aus[gebreitet], die in den kommenden Jahrhunderten die künstlerische Einbildungskraft beschäftigen: Verfremdungen der Dingwelt, Höllenfahrten, Hexentreiben und Satanskult, hedonistische Gegenparadiese und Verkehrte Welten." (51)
Das Bilderkaleidoskop, das anschließend aus den Gegenstandsbereichen der Malerei, der Grafik und der Zeichnung entfaltet wird, nimmt die gesamte Kunstgeschichte in den Blick und fokussiert schlaglichtartig einzelne "Phantasiestücke" von der Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Dürer, Leonardo, Michelangelo und Raffael erweisen sich als typische Vertreter eines "neuen Empirismus" (62), der zwar dem Kausalitätsprinzip verpflichtet ist, aber der gerade dem Beobachterblick die der "Faktenwelt [...] inhärenten (nicht aufgedrängten) phantastischen Strukturen preis[gibt]" (57). So sind es gleichwohl körperliche Deformationen und natürliche Anomalien, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie auch wiederentdeckte römische Grotesken, physiognomische Variationen und Kuriositäten bis hin zu Karikaturen. Schnörkel, Arabesken und Ornamente dienen dabei ebenso zur Verfremdung des Bekannten wie allerlei launige Capricci und verwirrende Manierismen, die Hofmann überzeugend u.a. bei Giovanni Bellini, Lorenzo Lotto und Arcimboldo nachweist.
Anders dagegen die niederländischen Bildideen des 16. Jahrhunderts, die eher auf "turbulente Szenen, deren Gewimmel von den Kunstregeln der Claritas nichts wissen will", setzten und "das Chaos der anonymen Menge" in den Blick nahmen. An wem ließe sich diese "ins Groteske gesteigerte Vitalität der Masse" und "die aus dem Lot geratene Ordnung" (80f.) besser zeigen als an Pieter Bruegel d.Ä.? Die Verkehrte Welt Bruegels führt die doppelbödige Absurdität der menschlichen Existenz handfest vor Augen. Das Phantasiestück basiert damit nicht auf irgendwelchen Chimären und Monstern, sondern "entspringt dem genauen Anschauen des Wahrnehmbaren" [...] Jedes Ding ist potentiell mehrsinnig: Diese Einsicht legitimiert den Künstler dazu, das Fakteninventar umzustülpen und sich von der positivistischen Eindeutigkeit (claritas, integritas) loszusagen." (96) Kombinierendes Erfinden, indem die Tatsachen "verzerrt und verfremdet, verschlüsselt und verrätselt" (98) werden, lautet die Devise. Gleichzeitig bleiben die Themen des Jüngsten Gerichtes und der Höllenfahrt weiterhin willkommene Sujets, um durch die drastische Darstellung körperlicher Affekte und ekstatischer Gesten keinen Zweifel an der Realität anderer Welten aufkommen zu lassen, was die Beispiele von Frans Floris, Joachim Wtewael und Herman tom Ring anschaulich beweisen. Ebenfalls abgründig und doch strukturell grundverschieden erscheinen die drei exemplarisch vorgestellten Werkgruppen des Schlossgartens von Bomarzo, der Architekturcapricci und Ruinenphantasien von Francois de Nomé sowie der zivilisationsfernen Landschaften des Hercules Seghers. Die Erfahrung existentieller Isoliertheit wird zur "gemeinsamen Signatur: die Unvertrautheit des Menschen mit seinem Hier und Jetzt." (135)
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kündigt sich ein Paradigmenwechsel an, wenn das "Zwei-Klassen-System der Neuzeit" von klassischem Regelkanon und dem "weitläufigen Terrain der Modi, die der Eindeutigkeit die Lizenzen der Mehrdeutigkeit vorziehen" (136), in Bewegung gerät. An Bildbeispielen von Füssli, Piranesi, Tiepolo, William Blake und schließlich Francisco Goya wird eindrucksvoll herausgestellt, wie sich die Trennlinien zwischen Empirie und Phantastik, zwischen sachlicher Wiedergabe und phantastischer Umformung allmählich auflösen und sich zu eigentümlichen Mischungen, bildimmanenten Kopplungen und polarisierenden Konfrontationen wandeln. Im Falle Goyas erscheint die "Kompilation unterschiedlicher Wirklichkeitsbezüge" als "revolutionäre Tat", welche "die Unterwanderung der selbstgewissen, akademisch inthronisierten Hochkunst der Malerei mit seinen Waffen der Demaskierung" betreibt (171f.).
Goya war es Hofmann zufolge auch, der "ein neues Kapitel der Phantastik einleitete: Erfindungen, für die es keine literarische Legitimation [...] gibt." (190) In Odilon Redons Phantasiestücken submariner Welten, die eine scheinbar mikroskopische Realität aus der Fiktion künstlerischer Einbildungskraft herleiten, ist eine weitere Befreiung von literarischen Motiven und Werken auszumachen. Neben der imaginierten Flora und Fauna des Meeresbodens sind es vor allem auch die Phänomene der Großstadt, welche die Bildwelt des 19. Jahrhunderts prägen. Die Metropole zwischen Industrialisierung und Kommerzialisierung wird zum Schauplatz "zwischen Himmel und Hölle" (193), der nicht nur Kultur und Luxus ermöglicht, sondern auch Abgründe und Perversionen zutage fördert. Bereits Grandville zeigte jenes Verwandlungspotential, das in der wachsenden Dingwelt steckte und das in der kapitalistischen Warenästhetik zu weiteren Verkehrten Welten führte. Ein anderes Gesicht erhalten die Versuchungen der Großstadt in Gustave Moreaus dekadentem Symbolismus, in Felicien Rops' Satanisten-Folge sowie durch James Ensors Demaskierungen bürgerlicher Bigotterie. Sehr plausibel legt Hofmann damit im 19. Jahrhundert zwei "Stränge" offen, "aus denen die Ding-Verfremdungen der Moderne des 20. Jahrhunderts erwachsen": "der eine umfasst die Welt der polierten Schaufensterpuppen, also intakte, funktionsbereite Objekte, der andere hält sich beim Kaputten, Desolaten und Gebrechlichen auf und macht daraus Vanitas-Chiffren." (215) Die Objets trouvés bzw. Readymades Marcel Duchamps, die seriellen Reproduktionen Andy Warhols, die Rauminstallationen von Joseph Beuys und die allgemeine "Öffnung der Denkkategorien" (220) deuten sich damit bereits an. Die Geschichte der phantastischen Kunst als dialektische Ausgleichsbewegung zum Illusionismus klassischer Bildtraditionen jedoch findet in den subversiven Bildstrategien des Surrealismus und vor allem in Max Ernst und Paul Klee ihren vorläufigen Höhepunkt.
Souverän spielt Werner Hofmann als genauer Beobachter auf der Klaviatur des Phantastischen ohne dabei selbst ins Bodenlose abzuheben. Die durchgehend brillante, phantastisch zu nennende Abbildungsqualität macht das Buch zu einem ganz besonderen Lesevergnügen.
Ulli Seegers