Bodo von Dewitz (Hg.): La Bohème. Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Steidl-Verlag 2010, 399 S., zahlr. Fotos, ISBN 978-3-86930-139-6, EUR 58,00
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Der von Bodo von Dewitz herausgegebene, sehr informative und reich illustrierte Ausstellungskatalog stellt Ausgangspunkt und Wirkung des Bohème-Mythos seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Er prägt bis heute das Bild vom jungen Künstler als unkonventionellen Bohèmien. Besonders wird die Wirkung des Mythos auf die Selbstrepräsentation der Künstler im Medium der Fotografie analysiert. Verschiedene Aspekte aus dem engeren und weiteren Umfeld der Bohème, die Pariser Situation, ihre Auswirkungen auf den angelsächsischen Raum bis hin zu den Künstlerfesten in Deutschland um die Wende zum 20. Jahrhundert werden zum Teil brillant präsentiert. Der Bogen wird von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1930er-Jahre geschlagen. Neben der Vielzahl von Abbildungen im Textteil rundet ein umfangreicher Bildkatalog das Buch ab.
Das hier vorliegende Buch ist das dritte einer Reihe von Projekten des Museum Ludwig, Köln, zur Kulturgeschichte der Fotografie. Der Ausstellungskatalog ist im Kontext der Untersuchungen der letzten Jahre zum Thema inszenatorischer Porträts im Medium der Fotografie zu sehen. Hier wird zum ersten Mal in einem umfangreicheren Rahmen der Frage nachgegangen, welche Intentionen mit den Aufnahmen aus der "Privatwelt" der Künstler verbunden sind. Besonders Topoi des Bohème-Mythos spielen eine wichtige Rolle. In bisherigen Publikationen wurden solche Fotografien nur als den Text ergänzende Abbildungen verwendet, ohne ihre Bedeutung für das Selbstbild der Künstler zu befragen.
Die Einführung des Herausgebers verdeutlicht die Bedeutung der literarischen Werke Henri Murgers als Vorlage für das Künstlerbild des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei steht sein Hauptwerk "Vie de Bohème" von 1851 als einer der populärsten Stoffe des 19. Jahrhunderts im Zentrum. Das Leben der "Bohème" wird als eine Durchgangsphase im Leben des jungen Künstlers erkennbar. Sie ist von Regelverstößen, Extravaganzen und Auffälligkeiten geprägt, die in den Fotografien ihres privaten Umfeldes fixiert werden. Dabei übernimmt die Fotografie als künstlerisch genutztes Medium eine wichtige Rolle. Hintergrund ist, dass viele Künstler sich dem neuen Medium widmeten, das im selben Zeitrahmen mit dem Bohème-Mythos entstanden ist. Wie schon bei malerischen Selbstbildnissen bleiben auch die fotografischen Selbstinszenierungen der Künstler auf Distanz zur bürgerlichen Wohlanständigkeit und gesellschaftlich diktierten Bildstandards. Dabei nutzen sie die Topoi der Bohème.
Die weiteren Aufsätze folgen annähernd einer Chronologie, die von der Pariser Bohème der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeht und bis 1900 den Schwerpunkt französischer Entwicklungen präsentiert.
Die Topoi der Bohème stellt Roswitha Neu Kock in ihrem großartigen Beitrag vor, der von Fotografien des sinnbildhaft aufgeladenen Ateliers mit und ohne Künstler bei den Künstlerfürsten zu denen der armen Künstlerbohème führt. Dort wurde der gusseiserne Kanonenofen - u.a. als Kochstelle genutzt - zu einem festen Bestandteil der Atelierfotos. Letzteres leitet dann über zu den für die Bohème so wichtigen Künstlerlokalen.
Kurtisane zu werden, war eine Möglichkeit des "Aufstiegs" in höhere Kreise für Frauen aus der Bohème. Wenn dann eine solche Dame in einer Operette von Offenbach den Cupido gab, verbanden sich auch auf der personellen Ebene die satirischen Darbietungen auf der Bühne, deren Phantasmagorien in zahllosen Fotografien dokumentiert sind, mit denen des realen Lebens der oberen Zehntausend. Eberhard Illner durchleuchtet sehr prägnant das komplexe Verhältnis der Pariser Bohème zur "höheren" Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs.
Einer der besten Beiträge auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene ist der von Kathrin Lutz. Bei ihr steht das Verhältnis des Dandys zum Bohèmien im Zentrum. Der Dandy wird als "Selbst-Künstler" erkennbar, der Eigeninszenierung mit radikaler Eleganz und extremem Stilisierungswillen verbindet. Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem Bohèmien, dem posierenden Kreativen, werden analysiert. Beiden gemeinsam ist eine Kultur des Blicks und des Sehens. Daraus ergibt sich zwangsläufig eine Affinität zur Fotografie, die schon allein wegen der Belichtungszeiten die Pose erfordert. Der fotografische Kult der Pose verewigt dann das von den Dandys und Bohèmiens gepflegte Posieren.
Kerstin Stremmel lässt schließlich in sehr schönen Streiflichtern die Lebenswelt der letzten "echten" Bohèmiens in Paris aufleuchten. In den Fotografien der Künstler erscheinen die Maler und Bildhauer in teils exzentrischer Aufmachung, während ihre Umgebung mit Gemälden den Entstehungskontext ihrer Kunst erkennen lassen.
Schon im ersten - quasi Pariser - Teil werden in vereinzelten Kapiteln Bespiele für den Einfluss der Bohème im englischen und US-amerikanischen Bereich hinzugenommen. Hier soll besonders der Aufsatz von Sara Stevenson zu den Fotografien von David Octavius Hill und Robert Adamson erwähnt werden. Stevenson schafft es, in ihrer sehr gelungenen Darstellung mit guten Bildinterpretationen vor Augen zu führen, wie es den beiden Künstlern gelang, im noch jungen, schwer zu handhabenden Medium der Fotografie (z.B. lange Belichtungszeiten) spontan und uninszeniert erscheinende Personentableaus festzuhalten.
Wie bereits in einigen Aufsätzen zuvor, ist der letzte Teil dem Zusammenhang von Bohème und deutscher Künstlerszene zwischen 1900 und 1933 gewidmet. Die Generation der Expressionisten steht mit Ernst Ludwig Kirchners Selbstinszenierungen im Zentrum des Aufsatzes von Roland Scotti. Das als expressionistisch-antibürgerlicher Raum gestaltete Atelier Kirchners stellt den Hintergrund der Fotografien. Es wird zum Ort unterschiedlicher Bohèmienhaltung: So präsentiert sich Kirchner 1915 als zackiger Soldat des Ersten Weltkriegs, wohingegen der schwule Künstler Hugo Biallowons nackt im selben Raum tanzt. Der Aufsatz hebt sich deutlich von den meisten anderen durch eine eingehende Beschreibung und gute Analyse der Fotografien ab. Geschickt nutzt Scotti Kirchners Porträtfotografien, um das jeweilige Selbstbild und die Lebenssituation des Malers zu analysieren.
Die berühmtesten Künstlerfeste der 1920er-Jahre sind heute sicher die des Bauhauses. Mercedes Valdivieso schildert in sehr guter Weise, wie diese als integrative und publicityträchtige Kunstereignisse inszeniert wurden. Leider sind diese nicht sehr umfangreich fotografisch dokumentiert und der Aufsatz bleibt eine eingehende Verbindung der Aktionen und Posen zur Bohèmetradition schuldig.
Den Abschluss des Textteils bildet der Aufsatz von Daniel Kothenschulte, der die vom Mythos der Bohème gespeisten Künstlermelodramen des frühen Kinos behandelt. In ihnen werden die Klischees der Künstlerwelt für ein breites Publikum aufgearbeitet. Leider untersucht der Autor mehr die Rolle des Modells in den Streifen als die des Verhaltens des Malers "à la Bohème".
Das Buch stellt eine hervorragende Basis für Kenntnis und weiterführende Forschung zum Leben, Selbstbild, Umfeld und Einfluss von Künstlern und Künstlerkreisen im 19. und frühen 20. Jahrhundert dar. Als roter Faden ist der Bohème-Mythos allerdings leider nicht immer deutlich genug erkennbar. Sehr gute Aufsätze machen das Buch außerordentlich lesenswert. Daneben stehen aber auch rein deskriptive oder nur schwache analytische Beiträge, die hier nicht berücksichtigt wurden. Bemerkenswert ist die wunderschöne, geradezu liebevoll gestaltete Ausstattung des Kataloges mit seinen qualitätsvollen Abbildungen. Es ist eine hervorragende Zusammenschau artifizieller, inszenatorischer, spontaner, spielerischer und schnappschussartiger Bilder der Künstlerwelt.
Andreas Baumerich