Astrid Mignon Kirchhof: Das Dienstfräulein auf dem Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1894-1939 (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung; Bd. 11), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 274 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-09776-5, EUR 52,00
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Die bisher erschienenen Bände der "Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung", herausgegeben von Christoph Bernhardt und anderen anerkannten Vertreterinnen und Vertretern einer kulturwissenschaftlich orientierten Stadtforschung, widmeten sich Formen der Repräsentation von Herrschaft und Stadt, Fragen der Imagebildung, des Marketings und der Kulturpolitik, aber auch eher traditionellen Themen wie Stadtplanung und Verkehr, oft im Rahmen vergleichender Studien. Mit der vorliegenden Arbeit von Astrid Mignon Kirchhof wird dieses Spektrum nun um die Dimension der Geschlechtergeschichte sowie um eine Diskussion der Konstitution, Erhaltung und Beschränkung öffentlicher Räume erweitert und bereichert.
Orte des Geschehens sind die Bahnhöfe der großen Städte, vor allem Berlins, symbolische wie reale Knotenpunkte sowohl der technisch-industriellen Entwicklung wie der metaphernreich aufgeladenen Debatten über Nutzen und Schaden, Risiko und Chance modernen städtischen Lebens. An den Bahnhöfen kommen diejenigen an, die Städter und Städterinnen zu werden erst erlernen müssen und dabei, so sieht es zumal die Großstadtkritik, erheblichen Gefährdungen an Leib und Seele (ihrer körperlichen und moralischen Gesundheit) ausgesetzt sind. Und an den Bahnhöfen werden sie erwartet - geschützt und kontrolliert zugleich - von Angehörigen der Bahnhofsmission, die als Teil des größeren Projekts der Inneren Mission mit 'rettender Liebe' nicht allein Not lindern, sondern auch den 'christlichen Sinn' unter den "Gefährdeten" (19) erwecken will. Verwandte Arbeitsbereiche sind die Mitternachtsmission (im Kampf gegen Prostitution), Seemannsmission (als Schutz vor Trunksucht) und die Fürsorge für Zuwanderer. [1]
Im Unterschied zu anderen Einrichtungen sind die Angehörigen der Bahnhofsmission, gegründet 1894 in Berlin als "Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend", zumeist weiblich. Mithin treten durch die Arbeit der Organisation Frauen agierend in den öffentlichen Raum der Städte - ganz konkret an den Bahnhöfen, aber eben auch im übertragenen Sinne, in den öffentlichen Aktivitäten der Evangelischen Deutschen Bahnhofsmission. Auf dieser Grundlage entwickelt Kirchhof ein weitgespanntes und detailreiches analytisches Feld: Wie gestaltete sich "die Zunahme öffentlicher Präsenz von Frauen in verschiedenen sozialen Räumen" (16)? Welche Hierarchien - "Rangordnungen und Netzwerkstrukturen" (16) - entstanden dabei? Welche Netzwerke von Kontrolle und Fürsorge entwickelten sich, ausgehend von den Bahnhöfen, über der Stadt? Wie ist es zu interpretieren, dass Zeitgenossen prinzipiell die Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit kritisch sehen, die Arbeit der Bahnhofsmission aber mit Wohlwollen betrachten?
Konzeptionell und methodologisch arbeitet Kirchhof mit einem Verständnis von Kultur als Prozess und Praxis. Die Räume, von denen sie berichtet, entstehen durch Handlung, sie werden "in einer aktiven Leistung hergestellt beziehungsweise angeeignet" (21). Mit dem Raumkonzept der Soziologin Martina Löw unternimmt Kirchhof den Versuch, "Räume relational zu denken": materielle Gegebenheiten, Handlungen (das Ankommen, das In-Empfang-nehmen), Begegnungen, Zuordnungen in komplexen und (kulturell wie sozial) höchst unterschiedlichen Konstellationen in ihren Beziehungen zueinander zu analysieren und darzustellen. Auf der Basis ausgiebiger und intensiver archivalischer Recherche ist so eine Arbeit entstanden, die zunächst das Konzept der "gefährdeten Frau" (19) als Grundlage der stadtmissionarischen Arbeit diskutiert, sodann die relevanten Handlungsräume an den Bahnhöfen wie in der gesamten Stadt und darin die tägliche Praxis der Missionsarbeit untersucht, um sich weiterhin - jenseits der konkreten Bahnhöfe - mit der übergeordneten Ebene der Verbandspolitik (und der Geschlechterbeziehungen darin) zu widmen. Das abschließende Kapitel kehrt wieder zum Bahnhof zurück und beleuchtet Prozesse der Einschränkung und Ende 1939 durchgesetzten Beendigung der Missionsarbeit unter dem NS-Regime.
Das klingt sehr vielschichtig, und ein Leser mag sich fragen, wie die Autorin die vielen Fäden gleichzeitig in der Hand behalten kann - sie kann es, da sie neben ihrer analytischen Versiertheit erfreulicherweise auch über die Gabe einer anschaulichen Darstellung verfügt. Vom ersten inhaltlichen Kapitel an entsteht vor dem Auge des Lesers eine lebendige Stadtlandschaft, mit bevölkerten Straßen, in der alten Mitte wie im neuen Westen Berlins, mit Kaffeehäusern und Warenhäusern, mit der Geschäftigkeit vor und in den Fernbahnhöfen, vor allem aber mit wirklichen Menschen, die sich im Alltag der großen Stadt zurechtfinden und zugleich sich gegenüber der ihnen vor-geworfenen Sittenbilder ("Gefährdete" [42], "Wanderer" [45]) als Individuen zu behaupten suchen. Auch die Missionarinnen selbst, in der Öffentlichkeit vor allem aufgrund ihrer "vorgebliche(n) Geschlechtslosigkeit und sexuelle(n) Nicht-Verfügbarkeit" (17) geduldet, erscheinen als praktische und tatkräftige Stadtmenschen - ein weiterer Beleg dafür, dass die Praktiker einer urbanen Sozialpolitik sowohl ihren Klienten wie auch der Stadt als Ganzer weit vorurteilsfreier zugewandt waren als die Prediger der Moral und Verächter der Stadt.
Von den Details der "bahnhofsmissionarischen" (66) und "jugendfürsorgerischen" (90) Arbeit wird sodann der Bogen weiter ausgespannt und der metaphorische "Raum" (20, 52) von Verbandarbeit und über die Bahnhöfe hinausreichenden Aktivitäten ausgeleuchtet (Besuchsarbeit, Integrationsangebote für Zuwanderinnen, Aufbau eines ganzen Netzwerkes von Heimen). Hier gilt Kirchhofs besonderes Interesse den Handlungsspielräumen von Frauen in Leitungspositionen, also in der Fürsorgepolitik, in den Medien, auf regionaler und nationaler Ebene. Das ist zwangsläufig, wenn das Wort hier gestattet ist, etwas weniger erotisch als die Schilderung des Lebens auf der Friedrichstraße; aber es gelingt Kirchhof selbst hier, etwa bei der Diskussion von Plakaten und Leuchtreklamen als möglichen Werbemitteln (Plakate ja, Leuchtreklame leider nein) für die Bahnhofsmission, Anschaulichkeit und lebendige Darstellung mit ihrer Analyse zu verbinden.
1939 wurde die Arbeit der Missionarinnen an den Bahnhöfen beendet und durch die NS-Volkswohlfahrt und den nationalsozialistischen Bahnhofsdienst ersetzt. Damit verloren nicht nur einzelne Individuen ihre Handlungsräume, die relativ unproblematische Form der Schließung unter der Diktatur macht, so Kirchhof, deutlich, wie "stets stark begrenzt" (252) die geschaffenen Räume der Bahnhofsmissionarinnen auch vorher waren. Damit findet die Arbeit ein etwas, fast möchte man sagen: erschöpftes und müdes Ende. Das ändert aber nichts am insgesamt sehr positiven Eindruck, den das Buch macht - innovativ im Zugriff, souverän in der Organisation, höchst beeindruckend in der Präsentation der zahlreichen Primärquellen und, wie gesagt, elegant geschrieben.
Wirkliche Schwächen kann ich nicht finden und beschränke mich auf zwei kleine Mäkeleien, von denen eine doch keine ist: Das vielbesprochene "Scheunenviertel" befindet sich (und befand sich auch damals) nicht direkt "nordöstlich der Friedrichstraße Richtung Hackescher Markt" (57); und sehr hübsch ist die Berliner Variante "par Excellanze" (56). Das Buch hingegen ist exzellent.
Anmerkung:
[1] Vgl. hierzu Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849-1914). Köln 2006.
Joachim Schlör