Ingrid Ostermann: Fabrikbau und Moderne in Deutschland und den Niederlanden der 1920er und 30er Jahre, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2010, 413 S., 284 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2582-2, EUR 89,00
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Fabrikbau und Moderne sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts erfasst eine rasante industrielle Revolution alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, Manufakturen werden durch Fabriken, Handarbeit durch Maschinen ersetzt. Kein Architekt hat die Ambivalenz dieser Beschleunigung und den Abschied von Bestehendem besser erfasst als Karl Friedrich Schinkel, der auf seiner England-Reise 1826 einerseits die kühnen, materialgerechten, zweckmäßigen und konstruktiv neuartigen Architekturen bestaunte, andererseits mit Unruhe sowohl auf den beginnenden steten Hang nach Neuem und Wechsel als auch die absehbaren sozialen Verwerfungen sah.
Zu den Meilensteinen in der kritischen Beschreibung dieser sozialen Folgen des Modernisierungsprozesses zählt Friedrich Engels' "Zur Lage der arbeitenden Klasse in England", das 1845 erschien und weite Verbreitung fand. Das Interesse der Architekten für einen modernen Fabrikbau an der nächsten Jahrhundertwende verdankt sich nicht zuletzt den nachfolgenden Reformbestrebungen, die eine Verbesserung der Wohn- und Arbeitsbedingungen der arbeitenden Klasse im Blick hatten. Der Einsicht, dass das Heer der Arbeitswilligen nur in sozialer Ruhe zu halten ist, wenn ihm lebenswürdige Bedingungen zugebilligt werden, hatten sich die Schrittmacher der industriellen Revolution gebeugt: in England waren es Georg Cadbury mit seinem Experiment von Bournville und der Fabrikant Lever in Port Sunlight, die sich um ebendies bemühten.
Ingrid Ostermann unternimmt in ihrem Buch - es ist die überarbeitete Fassung der 2006 an der TU Delft eingereichten Dissertation - die Untersuchung von Fabrikbau und Moderne zu einem Zeitpunkt, da die Hoffnungen auf einen reformerischen Weg im Industriezeitalter einen grundstürzenden Schock erlitten hatten. Der Erste Weltkrieg markierte eine Wende, und blieb nicht ohne Folgen auch für die Architektur: die Bauten der Industrie präsentieren sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu einem guten Teil im modernen Gewand. Diese Bauten - und explizit nicht die zeitlich parallel entstandenen, die im historischen oder expressionistischen Gewand daherkommen - stehen im Vordergrund der Publikation, in der sich Ingrid Ostermann, wohlbegründet durch den Umstand, dass sowohl Deutschland als auch die Niederlande als größte Beförderer der künstlerischen Moderne gelten können, auf einen Vergleich der Entwicklungen in diesen beiden Ländern konzentriert. Es geht ihr dabei einerseits um die speziell architektonische Moderne, das heißt um die Frage nach der "Funktionsgebundenheit von Architektur" (14), andererseits um die Frage nach der sozialen Moderne - den mit den Bauten geschaffenen Arbeitsbedingungen. Die Publikation versteht sich gleichzeitig, und dies ist als grundlegender Beitrag zu einer Industriedenkmalpflege zu würdigen, als Dokumentation von Bauten, deren Urheber hinter den heute strahlenden Stars nicht selten zurückstehen und die gerade deshalb in ihrem Bestand besonders gefährdet sind.
Das Schwergewicht der Arbeit liegt auf insgesamt sechs Projektstudien, davon jeweils drei in Deutschland und drei in den Niederlanden, die von einem einleitenden und einem abschließenden Teil den notwendigen historischen und theoretischen Rahmen erhalten. Die Projektstudien sind so angelegt, dass sie eine Vergleichbarkeit der Bauten ermöglichen. Ingrid Ostermann hat dafür ein überzeugendes Konzept aus historischem Hintergrund, Kurzdarstellung des jeweiligen Unternehmens, biografischer Skizze des entwerfenden Architekten, Bauphase, Analyse des fertig gestellten Baus sowie seinen späteren Nutzungen entworfen. Der Anhang enthält eine Zusammenfassung in niederländischer und englischer Sprache, ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis, Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis sowie ein Personenregister.
Das Kapitel "Gesellschaftliche Rahmenbedingungen" skizziert mit wenigen, gleichsam harten Strichen die Entwicklung in beiden Ländern. Dieses Bemühen gerät zu einer sparsamen Faktensammlung, ist in seinen Wertungen nicht unproblematisch (Bismarcks "vorbildliche Sozialpolitik" (32) vergisst dessen restriktive "Sozialistengesetzte" völlig) und kommt ohne Umschweife - nachdem die "Taylorisierung" der Arbeitsabläufe lediglich konstatiert wird - bereits hier zu architektonischen Fragen. Man hätte sich als Grundlegung zu dem Thema einen tieferen Einblick in den Zustand der Gesellschaften, der deutschen und der niederländischen, an dieser Stelle gewünscht. Zu dramatisch und existentiell ist das, was sich vor dem Hintergrund der deutschen Reichsgründung mit ihrem enormen Tempo wirtschaftlicher Prosperität und des älteren niederländischen Königreichs mit zunächst langsamer, dann jedoch sprunghaft einsetzender Industrialisierung einerseits und dem Ausbruch und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs andererseits abspielt. So schweben die künstlerischen Impulse der Nachkriegsjahre gewissermaßen im luftleeren Raum und werden nur ansatzweise mit der Gesellschaft verknüpft.
Ein breiterer Raum wird der Diskussion der Begriffe "Fabrikbau" und "Moderne" zuteil. Hier darf natürlich keiner der ganz Großen fehlen und es gelingt eine aufschlussreiche Überschau theoretischer Positionen von Hans Hertlein über Walter Gropius, Sigfried Giedion - bis hin zu Hans Poelzig. Unbemerkt bleibt allerdings, dass Giedions Auffassung, das "neue Bauen" hätte seinen Ursprung in der Industriebildung um 1830 genommen (42), allzu euphorisch ausfällt: sie verbirgt all das, was wir unter "Revolutionsarchitektur" fassen und was der Moderne so eigentlich den Weg ebnete. Es ist ein grundsätzlicher, allerdings angesichts der Sorgfalt der Arbeit insgesamt, ihrer Materialfülle und ausführlichen Analyse in den Projektstudien vergleichsweise kleiner Fehler, dass die den Kapiteln vorangestellten Zitate unkommentiert bleiben. So etwa hätte die etwas wolkige Eintragung in Wasmuths Lexikon der Baukunst von 1930 ("so ist auch die Fabrik unser Schicksal", 13) durchaus eine Anmerkung verdient.
"Neues Bauen" wird gern und vornehmlich vor allem mit dem Siedlungsbau der 1920er-Jahre verbunden. In welch hohem Maße die modernen Fabrikbauten dieser Zeit den übergreifenden gesellschaftlichen Anspruch erst verständlich machen - die Einrichtung von Pausenräumen, Waschräumen, Kantinen etc. gehört neben den Kriterien eines gut funktionierenden Produktionsablaufs in den ausgewählten Projekten stets zum Gesamtkonzept - und als komplementär zu den Anstrengungen um gutes, gesundes und bezahlbares Wohnen angesehen werden müssen, zeigt Ingrid Ostermanns Arbeit augenfällig und überzeugend. Den Architekten ging es dabei um die Bearbeitung dieses Themas mit ihren Mitteln: Der Industriearchitektur den Makel einer rein sachlichen Erfüllung des Zwecks und des reibungslosen Verkehrs zu nehmen und sie "zu einem Werk der Baukunst" zu erheben, wurde Ziel von Entwurf und Realisierung. Moderner Fabrikbau, so das Resümee, hat mit Funktionalität sehr viel zu tun, allerdings ebenso viel mit ästhetischer Formgebung - ein simples "form follows function" wird damit neuerlich und ganz zu recht ins Feld des Imaginären verbannt.
Sigrid Brandt