Tobias Schulz: "Sozialistische Wissenschaft". Die Berliner Humboldt-Universität (1960-1975) (= Zeithistorische Studien; Bd. 47), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 328 S., ISBN 978-3-412-20647-5, EUR 39,90
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Untersuchungen über Wissenschaft und Hochschulen haben insbesondere im Vorfeld von Gründungsjubiläen Konjunktur. 2010 feierte die Humboldt-Universität zu Berlin ihr 200jähriges Bestehen. Tobias Schulz hat sich die Geschichte dieser Universität in den Jahren zwischen 1960 und 1975 als Fallbeispiel gewählt, um zentrale Aspekte der Wissenschafts- und Hochschulpolitik der SED herauszuarbeiten. Da er seine Arbeit gerade nicht als klassische Universitätsgeschichte mit ihren verschiedenen Fachbereichen, sondern als Untersuchungsfeld für die Praxis wissenschaftspolitischer Strategien und Experimente der SED konzipiert hat, gelingt es überzeugend, "sozialistische Wissenschaft" am Beispiel einer der größten Universitäten der DDR zu analysieren.
Das Fallbeispiel der Berliner Humboldt-Universität nutzt Tobias Schulz, um die Entwicklung des Wissenschafts- und Hochschulsystems der DDR von den Anfängen bis zur Mitte der 1970er Jahre darzustellen. Im ersten Kapitel wird auf die Etablierung wissenschaftspolitischer Institutionen nach 1945 und deren Versuche eingegangen, unter der Losung "Sturm auf die Festung Wissenschaft" vor allem über die Personalpolitik steuernd in den Wissenschafts- und Universitätsbetrieb einzugreifen. Das zweite Kapitel behandelt das "Reformpaket" der 1960er Jahre, in dessen Mittelpunkt die Wirtschaftsreform sowie die Bildungs- und Hochschulreform standen. Dabei werden Bezüge und Vergleiche zu Reformdebatten in Westdeutschland und der sich daraus ergebenden gegenseitigen Beeinflussungen hergestellt. Das dritte Kapitel analysiert den auf die Hochschulreform folgenden Wandel der universitären Strukturen. Das abschließende vierte Kapitel behandelt verschiedene Aspekte wissenschaftlicher Praxis an der Humboldt-Universität wie die Organisation des Studiums, die Stellung der Hochschullehrer und des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie konkrete Formen der Forschungsorganisation.
Nach den bahnbrechenden Untersuchungen Ralph Jessens zur Geschichte der ostdeutschen Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära [1] fällt es Schulz freilich schwer, für den Zeitraum zwischen 1945 und der Hochschulreform von 1968/69 für die Humboldt-Universität neue Thesen und Erkenntnisse zu präsentieren. Dennoch bestechen gerade die ersten beiden Kapitel durch die Art und Weise, wie die Intentionen einer zentral gesteuerten Wissenschaftspolitik der universitären Lehr- und Forschungspraxis an der Berliner Humboldt-Universität gegenübergestellt werden. So wird einmal mehr deutlich, wie Ziele, Mittel und Strategien der SED mit historischen Kontinuitäten, notgedrungenem Pragmatismus und den Beharrungskräften sowie Lebenswelten des universitären Milieus konfrontiert worden sind. Somit zeigt auch das konkrete Berliner Fallbeispiel, dass der Prozess des Wandels einer bürgerlichen Bildungselite zur "sozialistischen Intelligenz" zwar von Partei und Staat zielstrebig vorangetrieben und kontrolliert wurde, aber langwieriger und widersprüchlicher war, als es das Bild eines rücksichtslosen "Sturms auf die Festung Wissenschaft" suggeriert. Erst die Reformdynamik der 1960er Jahre, so resümiert Tobias Schulz die Entwicklung bis 1968, habe die Transformation der Humboldt-Universität zu einer "sozialistischen Universität" gemäß den Zielvorstellungen der SED entscheidend vorangetrieben.
Im Zentrum der Studie von Tobias Schulz steht die Vorbereitung, Umsetzung und Wirkung der 3. Hochschulreform an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Unterschied zu vielen anderen Untersuchungen zur Hochschulpolitik der SED konzentriert sich die vorliegende Studie nicht auf den zeitlichen Einschnitt der Reform 1968/69, sondern auf die Vorgeschichte sowie die praktischen Folgen dieses gravierenden Wandels im Hochschulsystem der DDR. Auf diese Weise kann Tobias Schulz exemplarisch dem konfliktreichen Verhältnis von pragmatischer Modernisierung und stärkerer politischer Einflussnahme nachgehen, das die Hochschul- und Wissenschaftspolitik der SED in den 1960er und frühen 1970er Jahren kennzeichnete. Einen wesentlichen Aspekt der Untersuchung bildet somit auch das spezifische Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik, das sich in diesen Jahren herausgebildet hatte und bis 1989 prägend blieb: das Nebeneinander von Ideologisierung bzw. Politisierung der Universität als gesellschaftspolitische Zielvorstellung der SED und der institutionellen Eigenlogik der Universität, die systemübergreifenden Entwicklungstrends in der Wissenschaft folgte. Aus diesem widersprüchlichen Verhältnis werden Konflikte gezeigt, die auch die "Grenzen der Diktatur" im Teilbereich Wissenschaft bzw. Universität markieren.
Das Verdienst der Studie besteht vor allem darin, anhand eines Fallbeispiels die Ambivalenz der Reformprozesse im Hochschulwesen der DDR während der 1960er Jahre aufzuzeigen. Einerseits resultierten die konkreten Reformschritte wie die Auflösung der traditionellen Fakultäten und die Gründung von Sektionen als neue universitäre Organisationseinheiten, die Neuordnung des Studiums und ebenso die Umstrukturierung der Universitätsleitung aus den ideologischen Zielvorstellungen der SED von einer "sozialistischen Universität". Die politische Dominanz der SED an der Universität wurde weiter perfektioniert. Die neuen Universitätsstatuten des Jahres 1970 beseitigten dann auch formell die Reste der traditionellen universitären Selbstverwaltung. Andererseits interpretiert Schulz die Hochschulreform auch als Reaktion auf die Herausforderungen einer modernen Industriegesellschaft. Die Hochschulreform war darauf ausgerichtet, die Ausbildungs- und Forschungsangebote an die Bedürfnisse der Wirtschaft anzupassen. Fraglich ist, ob die staatlich verordnete Überwindung der korporativ organisierten bürgerlichen Ordinarienuniversität als angemessene Antwort auf die neuen Anforderungen einer modernen Wissenschaftsorganisation gedeutet werden kann, wie dies die Studie nahelegt. Denn ein Blick auf den westdeutschen Nachbarn zeigt auch andere Varianten einer Hochschulreform. Die westdeutschen Reforminitiativen beschränkten sich bei der Benennung von möglichen Modellen einer neuen und besseren Organisation auf Vorschläge, Impulse und Anregungen; sie ließen dabei auch verschiedene alternative Modelle, wie sie unter der Kulturhoheit der Länder entwickelt worden waren, nebeneinander stehen.
Gleichwohl verweist Schulz zu Recht auf vergleichbare Entwicklungen im Hochschulsystem Westdeutschlands, wo ebenfalls auf den steigenden Bedarf an wissenschaftlicher Expertise und Forschungsleistungen sowie an akademisch ausgebildeten Fachkräften reagiert wurde. Wie aus der Studie hervorgeht, wägte die Hochschulreform in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik jedoch ein starker ideologischer Aspekt, da der wissenschaftliche Nachwuchs nun noch intensiver in das System der "marxistisch-leninistischen Erziehung" einbezogen wurde. Insgesamt sind die Bezüge zur westdeutschen Hochschulentwicklung hervorzuheben, wenngleich im deutsch-deutschen Vergleich der wichtige Aspekt zentraler Forschungsplanung etwas unterbelichtet bleibt.
Tobias Schulz hat eine sehr beachtenswerte Studie über das widersprüchliche Verhältnis zwischen den Absichten der SED zur Transformation der bürgerlichen Ordinarienuniversität in eine "sozialistische Universität", den sich aus den Anforderungen einer modernen Wissensgesellschaft ergebenden Reforminitiativen und der institutionellen Eigenlogik der Universität vorgelegt. Insofern bilden seine Untersuchungsergebnisse über die Humboldt-Universität zu Berlin einen wichtigen Baustein für eine Wissenschaftsgeschichte der DDR.
Anmerkung:
[1] Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999.
Andreas Malycha