Fritz Fellner / Doris A. Corradini (Hgg.): Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs. 1869-1936 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs; Bd. 105), Wien: Böhlau 2011, 3 Bde., 1612 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-78617-7, EUR 98,00
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Jurist, Historiker und Politiker, Universitätsprofessor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Technischen Hochschule Wien und für Comparative Public Law an der Harvard University, Abgeordneter des Mährischen Landtags, des Österreichischen Reichsrats und der Provisorischen Nationalversammlung, 1918 und 1931 für wenige Monate österreichischer Finanzminister, Mitglied der Carnegie-Kommission zu den Balkankriegen und des Conseil Consultativ des Centre Européen de la Dotation Carnegie pour la Paix Internationale sowie Deputy Judge des Permanent Court of International Justice in Den Haag - das sind die wichtigsten äußeren Stationen im beruflichen und politischen Leben Josef Redlichs. Eindrucksvoll und doch Zeichen des Scheiterns. Redlich suchte nach Wegen, Altösterreich zeitgemäß umzuformen, um es bewahren zu können. Doch man ließ ihn nicht an die Schalthebel der Macht oder erst, als es zu spät war. Er blieb letztlich ein Beobachter und Ratgeber, zum Gestalter wurde er nicht. Wie ein Schwamm sog er ständig Informationen auf aus Quellen aller Art, zuverlässigen und dubiosen. Das Personenregister umfasst ca. 180 Seiten! Was er hörte, beobachtete und weitergab und wie er es einschätzte, darüber gibt sein Tagebuch Auskunft.
Die Herausgeber nennen ihre Edition missverständlich eine Neuauflage. Die erste Ausgabe [1] enthielt nur die politischen Aufzeichnungen, nicht die zum privaten Leben. Erst beides zusammen macht das Tagebuch zu einer ungemein vielschichtigen Quelle über das alte Österreich, seinen Untergang im Ersten Weltkrieg und die widerspruchsvollen Versuche, der Republik eine Zukunft zu sichern. Ergänzt wird die stark erweiterte Edition, die nun die kompletten Tagebucheinträge bietet, um Auszüge aus Briefen, in denen Redlich einer Jugendfreundin, die in den USA lebte, in z. T. tagebuchartiger Dichte berichtete. Außerdem werden seine Fragment gebliebenen Erinnerungen abgedruckt.
1916 notierte Redlich, "lieber das letzte kräftige Jahrzehnt des Lebens an Studien und Wirksamkeit in Amerika wenden", "eh' ich hier, in diesem Sumpf, nach dem Kriege als bloßer Betrachter der Dinge und Causeur in der Wiener Adelsgesellschaft verbleibe". Die bittere Zukunft Österreichs ahnte er noch nicht, doch seine eigene Situation sah er realistisch: Beobachter und Causeur. Aber nicht nur in der Adelsgesellschaft, sondern in der gesamten politischen Klasse, einschließlich der politisierenden hohen Beamtenschaft, und auch in den intellektuell führenden Kreisen. Mit Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr war er eng verbunden, Beatrice und Sidney Webb nannte er seine Freunde, Tomáš Masaryk suchte auch noch als Präsident der tschechoslowakischen Republik das Gespräch mit ihm, auf seinen Reisen nach England und in die USA riss die Kette ehrender Einladungen nicht ab. Sie alle schätzten Redlich als geistvollen Gesprächspartner, in Wirtschaftsfragen ebenso bewandert wie in außenpolitischen, Minister erbaten seinen Rat, Schriftsteller sprachen mit ihm über Dichtung. Im späten Reich war er immer wieder als Ministerkandidat im Gespräch, doch der Kaiser berief ihn erst in die letzte Regierung: "Liquidator des alten Oesterreich", wie die Neue Freie Presse am 26.10.1918 schrieb. Redlich sei zu "heiter und weltmännisch", diagnostizierte Bahr 1917 im Gespräch mit ihm, deshalb nehme man ihn in Österreich nur als "sehr geistreich und amüsant" wahr. Dass auch sein "'Judentum' eine gewisse Rolle spiele", wie Bahr meinte, wollte Redlich nicht wahrhaben.
Redlich litt an Österreich. Das "Hauptproblem" laute: "ist es möglich und durch welche Mittel soll es geschehen, dass die durch den Absolutismus geschaffene, Jahrhunderte alte Reichs- und Staatsgemeinschaft so vieler Völker und Stämme, wie sie die Untertanenschaft der Habsburger insgesamt ausmachte, als staatliche Reichsgemeinschaft erhalten bleiben könne, wenn die Prinzipien der individuellen politischen Freiheit des Liberalismus und der volklichen Freiheit des Nationalismus gleichzeitig für alle Länder und Völker gelten sollen?" [2] Darüber dachte er sein Leben lang nach und suchte nach Lösungen.
Parlamentarische Regierung und föderale Autonomie hießen die Leitlinien seines politischen Programms, um das alte Österreich zukunftsfähig zu machen. Noch im November 1918 legte er dem Kaiser seine "Hoffnung auf einen neuen Bund der freien Völker Österreich-Ungarns" mit einem "kaiserlichen Bundespräsidium" dar. Im Einzelnen schwankte er je nach Zeitlage. Im Weltkrieg wird der Annexionist zum Friedenspolitiker, doch stets suchte er nach Wegen, Österreich-Ungarn nicht zerfallen zu lassen. Als dies nicht mehr zu vermeiden war, setzte er auf eine Art österreichische Schweiz: neutral, Kantonalverfassung für alle deutschösterreichischen Länder, vielleicht mit dem deutschen Süden zu einem Wirtschaftsbund zusammengeschlossen, zugleich mit "Böhmen, Magyarien und Südslawien" zoll- und verkehrspolitisch verbunden. Redlich dachte in Konzeptionen. Sich im Parlament eine Machtbasis zu schaffen, fehlte ihm die Bereitschaft. Auch in der Fraktion blieb er ein Einzelgänger. Darauf war sein Lebensstil zugeschnitten.
Redlichs Tagebuch zeigt einen Menschen, der sich seinen politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Neigungen hingeben kann. Das elterliche Erbe und sein Bruder Fritz, der es mehrte, ermöglichten es. Das Einkommen aus der ordentlichen Professur - nach ihr hatte er sich gesehnt - war ein willkommenes Zubrot, doch das Leben, das er führte, hätte er mit dem Professorengehalt nicht bestreiten können. Er war bei den Reichen und Mächtigen zu Gast und sie bei ihm, eine unaufhörliche Kette von Diner, Lunch, Souper und Tee, selbst in den Zeiten des Krieges und der Inflation, ein Leben im Gespräch, das auch auf den vielen Reisen nicht abriss. Die Universität als Berufsort taucht im Tagebuch nur gelegentlich auf. Als der Bruder 1921 starb - im Krieg hatte er ihm noch jährlich 25.000 Kronen zugesichert -, wurde es schwieriger, den aufwendigen Lebensstil zu finanzieren. Nun nahm er Aufträge als Autor und Redner an, die in harter Währung bezahlt wurden. Die Harvard-Professur minderte die finanziellen Sorgen, und das Richteramt in Den Haag erleichterte die Rückkehr nach Wien. Am liebsten wäre ihm als Alterssicherung ein Amt wie das des Präsidenten des Obersten Rechnungshofes gewesen. Es kam nicht.
Das Tagebuch gewährt tiefe Einblicke in das gesellschaftliche Leben jener Kreise, mit denen Redlich verkehrte. Er war integriert. Die Voraussetzung dafür scheint seine Distanz zur jüdischen Herkunft gewesen zu sein. Er trat zum Protestantismus über, sein Bruder Fritz zum Katholizismus. Als ein Onkel 1918 bestattet wird, notiert Josef Redlich: "was für eine Unerträglichkeit ist das Judentum in unseren Tagen geworden!" Er macht viele abfällige Bemerkungen über Juden, doch es gibt auch verständnisvolle. Am schärfsten urteilt er über ungarische Juden: "Eine scheußliche Menschenart, diese jüdischen Milliardärssöhne von Budapest, diese Sumpfpflanzen aus dem widerlichsten Sumpf Europas", mitten in der "jüdischen Kommunistenrepublik". Sind das Äußerungen des "jüdischen Antisemiten Josef Redlich", wie Hye meint? [3] Oder spiegelt sich darin seine Überzeugung, dass die Habsburgermonarchie - neben der Reformunfähigkeit der Deutschösterreicher und des Monarchen - an der Sonderrolle Ungarns zerbrochen ist? Das müsste untersucht werden. Sein Nachlass, der Ende 2011 der Österreichischen Nationalbibliothek übergeben wird, gibt vielleicht Auskunft.
Das umfangreiche "Personenregister mit Kurzbiographien" nennt die Konfession nicht. Auch die Einleitungen in Band 1 und 3 fragen nicht nach ihrer Bedeutung für Redlichs Leben und das Schicksal seiner Familie. Was ist mit "Übersiedlung der Familie in die USA" zu Kriegsbeginn gemeint? Emigration? Der Sohn aus erster Ehe emigrierte 1939 nach Großbritannien, wo er sich eine neue Existenz als Musikwissenschaftler und Komponist aufbaute. Der Vater hatte noch erlebt, dass sein Sohn in Deutschland als "'Artfremder'" nicht mehr als Musiker leben konnte. Er riet ihm, in die "Schweiz zu übersiedeln". Das schrieb er 1936 kurz vor seinem Tode seiner Jugendfreundin. Ihr hatte er schon 1933 seine Sorge anvertraut, dass "die große Mehrheit der deutschen Männer und Frauen sich einem Wahnsinnigen in die Hände gegeben haben, der jetzt einen Hakenkreuz-Feldzug gegen die Juden führt". Was wird die "Folge davon in Österreich sein ..., wenn fanatische, teilweise durch Entbehrungen und Not ... um den Verstand und ganz um ihre Menschlichkeit gebrachte Massen die ganze Kultur Deutschlands zerstören werden."
Im Krieg und im Nachkriegsjahrzehnt waren Redlichs Klagen über die Selbstauflösung deutscher Kultur immer bitterer geworden. Am 23. September 1923 schrieb er in sein Tagebuch: "Was habe ich, der deutsch geboren und erzogen wurde, wenn auch meine Eltern jüdischen Glaubens waren, darum doch Deutsche besserer Art als diese Millionen bösartiger Trottel, die sich heute 'Germanen' nennen - was habe ich mit diesem ameisenartigen Volk zu tun"? An seinem Lebensende hatten andere diese verzweifelte Frage beantwortet, für ihn und für seine Familie.
Anmerkungen:
[1] Fritz Fellner (Hg.): Schicksalsjahre Österreichs 1908-1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs. 2 Bände, Graz 1953/54.
[2] J. Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. I. Band, Leipzig 1920, 89.
[3] Hans Peter Hye: "...Ich muss diesen Trotteln einmal die Wahrheit sagen". Politik, Kultur und Gesellschaft in den Augen des (alt-)österreichischen Abgeordneten und Historikers Josef Redlich. 1997, online bei kakanien revisited zugänglich: http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/HHye1/
Dieter Langewiesche