Theo Sommer: Unser Schmidt. Der Staatsmann und der Publizist, Hamburg: Hoffmann und Campe 2010, 416 S., ISBN 978-3-455-50176-6, EUR 22,00
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Helmut Schmidt gilt seit seinem Abschied aus dem Kanzleramt 1982 als weltgewandter und international renommierter "Elder Statesman". Er wird zu Themen gehört, zu denen er sich als Volkswirt oder Politiker, als Hamburger oder eben als Journalist äußert. Theo Sommer, sein langjähriger Weggefährte und ehemaliger Co-Chef als Herausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit", setzt ihm mit dem vorliegenden Buch ein Denkmal. Man könnte es als Hagiografie abtun, weil schon der Vorsatz das Buch "Dem Freund" widmet. Zu viel Kritik darf man da nicht erwarten, aber schon das Vorwort lässt erkennen, dass Sommer dem Altkanzler nicht erliegt (9-11).
Der Autor beschreibt auf 348 Seiten mit journalistischer Finesse, der notwendigen kritischen Distanz - die im Buch immer wieder im Ringen zwischen Herausgeber (Schmidt) und Geschäftsführer (Sommer) zum Vorschein kommt -, prägnant seinen Freund in einem mit zahlreichen Verweisen auf Zeugnisse von und über ihn gesättigten Sachbuch. In insgesamt drei Kapiteln widmet er sich zunächst dem seit 1983 bei der "Zeit" aktiven Journalisten Schmidt. Das zweite Kapitel skizziert seine Entwicklung in den vielen Handlungsfeldern des Homo politicus und als drittes Kapitel ist ein Interview angehängt, in dem Schmidt politische Macht letztlich als "Last" abtut (351).
In den beiden ersten, für das Buch wesentlichen Kapiteln greift Sommer auf eine chronologische Darstellung zurück, mit der er die Entwicklung Schmidts in seinen Aktionsfeldern nachzeichnet. Er beschreibt immer wieder die Erfolge, aber auch Misserfolge und mitunter das Scheitern Schmidts. Dessen Erkenntnisse, Feststellungen und Prognosen haben sich demzufolge konsequent und schrittweise entwickelt. Nur dann, wenn ein neuer Akteur die Bühne betrat oder Unvorhersehbares ("9/11" oder Mauerfall) geschah, hat er seine Auffassungen umfassend revidiert.
Besonders anschaulich wird diese Genese des in vielen Feldern international vernetzten Politikers im Kapitel über den Sicherheitspolitiker und Wehrexperten (175-224): Sommer skizziert anschaulich Schmidts Entwicklung vom desillusionierten Kriegsteilnehmer zu dem wehrpolitischen Experten, den die SPD bis in die 1980er Jahre besaß. Trotz der totalen Niederlage 1945 und der Existenz von Atomwaffen, die jedes militärische Abenteuer, jeden Krieg in einem Weltuntergangsszenario erscheinen ließen, widersprach Schmidt allen Pazifisten: "Wer Pazifist ist, hat keinen politischen Verstand!" (177). Angesichts der Atomwaffen und der durch sie gesicherten Abschreckung ("Pax atomica") hielt er eine glaubwürdige Verteidigungsbereitschaft des Westens gemäß dem Harmel-Bericht von 1967 gegen den sowjetischen Machtblock für notwendig. Erst aus dieser sicheren Position schien der Westen aus Schmidts Sicht über den Dialog zur Koexistenz, zur Verständigung (im Rahmen des KSZE-Prozesses) und zur Abrüstung (nach dem Wortlaut des NATO-Doppelbeschlusses) kommen zu können.
Es ist offenkundig das Schicksal Schmidts, dass seine Partei in dem Moment, als er die Verteidigungsbereitschaft à la Harmel mit der Stationierung von nuklearen US-Mittelstreckenwaffen (NATO-Doppelbeschluss und "Nachrüstung") einforderte, die Gefolgschaft verweigerte. Das "Raketenschach", wie Egon Bahr es nannte, spielten viele Genossen nicht mehr mit, weil sie die dahinter stehende Arithmetik nicht begriffen. (Die Mitglieder der CDU/CSU verstanden das auch nicht!) Der Grund für diesen Konflikt lag wohl darin, dass Schmidt im Gegensatz zum Parteivorsitzenden Willy Brandt mehr Realist als Visionär war und Visionären immer kritisch bis ablehnend gegenüber stand ("Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!"). Insgesamt wird gerade in diesem Kapitel das Dilemma des verantwortlichen Staatslenkers deutlich, das Schmidt schon früher als dreiphasiges Problem skizzierte: Im Zeitalter der Atomwaffen war Deutschland von der totalen Vernichtung bedroht, woraus Schmidt einen Anspruch auf Mitbestimmung in Fragen des atomaren Einsatzes einforderte und partiell auch durchsetzen konnte (196f.). Ob die Mitbestimmung allerdings wirklich soweit ging, dass diesbezüglich gegen den Bundeskanzler nichts entschieden werden konnte, bleibt fraglich, solange die entsprechenden Quellen nicht offen liegen. [1]
Da die Modernisierung der US-Mittelstreckenwaffen in Europa (d.h. Pershing II und Cruise Missiles) durch das Pentagon schon lange geplant war (207), erscheint Schmidt weniger der Vater eines Doppelbeschlusses als vielmehr derjenige, der eine sowieso stattfindende Modernisierung vor dem Hintergrund einer ebenso stattfindenden Modernisierung auf sowjetischer Seite (SS-20) raffiniert begründete. Somit hätten die Sowjets nicht anderes gemacht als die US-Amerikaner. In der Summe hat das Buch hier eine Leerstelle, weil es nicht den Sozialdemokraten - im ständigen Ringen um seine Partei - erfasst und analysiert.
Für den Deutschlandpolitiker Schmidt stand die deutsche Einheit nie in Frage. Zeitweilig meinte er damit jedoch eher eine emotionale Einheit der Nation und damit die Verantwortung der Bundesrepublik für die Menschen in der DDR. In seiner Amtszeit und kurz danach gab es gleichwohl keinen Anlass, an eine Vereinigung beider deutscher Staaten zu glauben (97). Gerade auf diesem Politikfeld ging es eher um Realitätsbereitschaft und nicht um Wunschträume (79), wie seine außenpolitischen Leitgedanken verdeutlichen (80). Nach dem für viele überraschenden Ende der DDR zeigte er sich, wie andere auch, vom Tempo des Einigungsprozesses überrascht. Seine Hinweise mündeten im Nichts - auch weil seine Partei, in sich zerstritten, den Einigungsprozess nicht den Wünschen der Bürger in der DDR anpassen wollte und von der Oppositionsbank auch gar nicht konnte. Schmidts spätes Urteil, die Einigung sei durch seinen Nachfolger politisch gut, ökonomisch aber katastrophal realisiert worden, ist heute eine Binsenweisheit.
Trotz allem Lesegenuss bleibt ein "G'schmäckle": Wenn Helmut Schmidt ein so umfassend profilierter Politiker war, wieso werden dann die Schwachstellen seiner Politik, insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung, die - zeitgleich mit der sicherheitspolitischen Krise um den NATO-Doppelbeschluss - zum Scheitern der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982 führten, eher nachlässig erklärt? Warum werden die überschaubaren Schnittmengen, die er mit der Masse der sozialdemokratischen Genossen hatte, nicht durch die offenkundigen Differenzen ergänzt? Insgesamt zeigt sich doch gerade an dieser Frage, dass der konservative Sozialdemokrat seine Auffassungen nur sehr moderat den Wandlungsprozessen anpasste und gesellschaftliche Veränderungsprozesse erheblich unterschätzte - oder seine Genossen intellektuell überschätzte.
Theo Sommer liefert mit dem Buch einen Beitrag zur Debatte über den Politiker Helmut Schmidt, der die Fronten zum Journalismus wechselte. Beide, Journalisten und Politiker, wollen erklären, warum die Welt so ist, wie sie ist. Im ersten Moment wirkt das Buch daher sehr deskriptiv, es ist aber mit feiner Analyse durchsetzt und bietet so prägnante, weiterführende Skizzen, die sämtliche Biografien über und die vielen Bücher von Helmut Schmidt erheblich ergänzen. Als Lesebuch ist es geeignet, wenigstens Helmut Schmidt besser zu verstehen. Gutachten von Grafologen über Helmut Schmidts Handschrift runden das Buch amüsant ab (72).
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu die in dieser Hinsicht auf Schmidt fixierte Studie: Detlef Bald: Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt, Berlin 2008.
Heiner Möllers