Justin Kroesen: Seitenaltäre in mittelalterlichen Kirchen. Standort - Raum - Liturgie, Regensburg: Schnell & Steiner 2010, 151 S., ISBN 978-3-7954-2172-4, EUR 34,90
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Die hohe Anzahl der Altäre und deren Ausstattung prägten im Wesentlichen das Innere einer mittelalterlichen Kirche. So unbestritten dies ist, desto überraschender bleibt es, dass bislang kaum Untersuchungen zu Altarensembles einer Kirche vorliegen. Der vorliegende Band liefert für dieses Forschungsfeld nun einen wichtigen Baustein, indem er einen Überblick über die räumliche Anordnung von Seitenaltären, das heißt von allen Altären außer dem Hochaltar, anbietet. Wohlgemerkt: Justin Kroesen widmet sich ausdrücklich dem 'Altar' und nicht dem 'Altaraufsatz', der im Sprachgebrauch oft fälschlicherweise mit dem Altar selbst gleichgesetzt wird. Ohne Weiteres ist eine Gesamtschau über die Thematik kaum zu leisten, da zunächst viele Altarsituationen erst durch Befunde vor Ort beziehungsweise durch archivalische Quellen zu rekonstruieren sind. Umso erfreulicher ist es, ein ansprechend illustriertes Buch in den Händen zu halten, das die wichtigsten Standorte von Seitenaltären in mittelalterlichen Kirchen anhand 'klassischer' Beispiele ebenso wie an eindrucksvollen 'Neuentdeckungen' präsentiert und den Kenntnisstand auch für den interessierten Laien sachlich knapp, aber informativ und verständlich erläutert.
Die Einführung (7-24) gibt einen Einblick in die vielfältigen Formen der Nutzung von Kirchenräumen und umreißt die mittelalterliche Frömmigkeitspraxis, die zu der hohen Zahl an Altargründungen führte - nicht nur in Kloster- und Domkirchen, sondern auch in 'normalen' Pfarrkirchen und zwar sowohl in der Stadt wie auf dem Land. Die Altarvermehrung und ihre Auswirkung auf den Kirchenbau werden anhand der kleinen Pfarrkirche von Leermens in der niederländischen Provinz Groningen (1100-1250) angesprochen. Einige prominente Beispiele von Stadtkirchen, die durch besonders hohe Altaranzahlen auffallen, werden aufgeführt, wie zum Beispiel St. Marien in Danzig (58), St. Nikolai in Stralsund (56) und das Ulmer Münster (52). Exemplarisch werden die Grundrisse der Danziger Marienkirche und der Johanneskirche in Herzogenbusch (Niederlande) mit ihrer eingetragenen Altartopografie abgedruckt (Abb. 3 und 4), was jedoch ohne Legende sehr abstrakt bleibt. Auch auf die Ursachen der heute 'leeren' mittelalterlichen Kirchenräume geht der Autor kurz ein. Wie nachdrücklich festgehalten wird, resultieren die Verluste im protestantischen Gebiet oftmals erst aus den Umgestaltungen des 17. Jahrhunderts oder den puristischen Kirchenrestaurierungen im 19. und 20. Jahrhundert. In den katholischen Kirchen wurde auch im Zuge der Gegenreformation die Altaranzahl reduziert.
Berücksichtigt wurden Seitenaltäre, die heute noch in situ vorzufinden sind, beziehungsweise deren Überreste, wie Wandmalerei, Reliefs oder Spuren am Bauwerk. Obgleich sich die Kirchenbauten in der Kirchenausstattung je nach ihrem Rang im Aufwand unterscheiden, macht der Autor hinsichtlich der Aufstellung der Seitenaltäre bewusst keinen Unterschied (25). Die Denkmäler finden sich in Mittel- bzw. Nordeuropa; ausgeklammert blieb der Mittelmeerraum, obgleich das Forschungsthema geografisch eigentlich nicht eingeschränkt werden kann. Aufgrund der Fülle der spätgotischen Beispiele wird vor allem die Zeit von 1350 bis 1530 erfasst.
Mittels eines fiktiven Kirchenrundgangs lernt der Leser die möglichen Altarstandorte vom Langhaus bis zum Chor kennen. Das Kapitel über das Langhaus stellt die Altäre an den Pfeilern, in den Seitenkapellen und an den Seitenwänden vor (26-71). Um das ursprüngliche Raumerlebnis näher zu bringen, werden vorrangig Altäre mit erhaltenen Retabeln ausgewählt. So wird zum Beispiel anhand der erhaltenen Retabel in Bardejov (Slowakei) und des Xantener Doms die räumliche Wirkung der an den Pfeilern und Seitenwänden aufgestellten Altäre mit ihren Flügelretabeln verdeutlicht. Außerdem weist Justin Kroesen auf die gemalten Pfeilerretabel hin. Diejenigen in der ehemaligen Abteikirche St. Albans bei London bezeugen eine relativ hohe Anzahl von Seitenaltären bereits im 13. Jahrhundert. Auch einige Seitenkapellen werden mit ihrer Altarausstattung genannt (zum Beispiel St. Leonardus im belgischen Zoutleeuw und St. Marien in Danzig). Weiterhin werden Altäre aufgeführt, die sich zwischen Langhaus und Chor befinden, das heißt vor dem Lettner und den Chorschranken, im Querschiff und an der Ostwand des Langhauses (72-112). Hier würde sich empfehlen, erst in diesem Zusammenhang die mitten im Langhaus aufgestellten Altäre (51) zu behandeln und die Beweggründe für diese Altardisposition zur Sprache zu bringen.
Bei den Altären im Chor wird zwischen den Standorten im Chorumgang - darunter sind wiederum die Kapellenräume subsumiert - (113-127) und im Priesterchor (127-131) untergliedert. Wünschenswert wäre, den Unterschied zwischen den Nebenaltären im Priesterchor, die als Matutinaltäre dienten, und einem Einzelbeispiel wie dem Schneideraltar im Hochchor der Stralsunder Nikolaikirche (hier wurde irrtümlich das Handwerksamt der Schneider mit den Gewandschneidern gleichgesetzt) noch deutlicher aufzuzeigen. Abschließend werden auch Altäre in Nebenräumen, wie Krypta, Westwerk, nochmals Kapellenanbauten (auch am Kreuzgang) und Sakristei, kurz aufgeführt (131-140). Bei diesem letzten Kapitel wird deutlich, dass hier ein Gesamtüberblick beabsichtigt war, der dem Großen und Ganzen Rechnung trägt, aber aufgrund des allgemeinverständlich gehaltenen Charakters hinter den Forschungsergebnissen manch in jüngerer Zeit vorgelegten, differenzierten Monografien zurückbleibt. [1]
Bei den Altären der Kapellenräume beziehungsweise der Nebenräume stellt sich die Erkenntnis ein, dass die räumliche Anordnung sich zwar als ein Kriterium eignet, um die Altäre eines Kirchenraums zu klassifizieren, aber um den Stellenwert und die Funktion eines Altars zu erfassen, sind vor allem der Inhaber, die Dotation und die hier praktizierten liturgischen und anderen ritualisierten Handlungen ausschlaggebend. Diese genannten Hintergründe wären im Hinblick auf die Altarhierarchie zu berücksichtigen. Wirklich tiefschürfend konnten diese Fragen im Rahmen dieser Studie keineswegs abgehandelt werden, wie der Autor selbst einschränkend bemerkt (24). Zudem lassen sich die jeweiligen spezifischen Formen der Nutzung aufgrund fehlender Schriftquellen oftmals nicht mehr ermitteln.
Abgesehen davon bezeugt dieser Band die profunde Denkmälerkenntnis des Autors, der bereits mit mehreren Arbeiten zur liturgischen Ausstattung ein differenziertes Bild von dem ursprünglichen Raumeindruck mittelalterlicher Kirchenräume zeichnete. Auch diese Publikation ist eine gewinnbringende Lektüre und führt anschaulich vor Augen, welch den Raum bestimmende Wirkung die Vielzahl der Altäre hatte. Zu hoffen bleibt, dass der Altar selbst beziehungsweise die Altarensembles von Kirchenbauten künftig nicht mehr ein Schattendasein innerhalb der liturgiewissenschaftlich orientierten Forschung zur Sakralarchitektur führen, sondern nach Möglichkeit bauarchäologische Befunde dokumentiert und archivalische Quellen hinreichend ausgewertet werden, um ein umfassenderes Bild davon zu gewinnen.
Anmerkung:
[1] Zu ergänzen wäre hier z.B. Anne Schaich: Mittelalterliche Sakristeien im deutschsprachigen Gebiet. Architektur und Funktion eines liturgischen Raums (Bau+Kunst; Bd. 17), Kiel 2008.
Sabine-Maria Weitzel