Albert S. Lindemann / Richard S. Levy (eds.): Antisemitism. A History, Oxford: Oxford University Press 2010, XII + 290 S., 1 Karte, ISBN 978-0-19-923502-5, USD 95,00
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An Literatur zur Geschichte des Antisemitismus herrscht wahrlich kein Mangel. Neben einer Flut von politischen Schriften gibt es auch eine reichhaltige Auswahl an wissenschaftlichen Publikationen über die Judenfeindschaft in den verschiedenen Epochen, Regionen und Gesellschaftsschichten. Was häufig als Phrase verwendet wird, scheint bei diesem Thema tatsächlich zuzutreffen: Die Forschungsliteratur zum Antisemitismus ist schier unüberblickbar geworden.
Wieso, fragt sich also der Leser des von Albert S. Lindemann und Richard S. Levy herausgegebenen Sammelbandes Antisemitism. A History, bedarf es nun noch einer neuen Gesamtdarstellung? Gibt es grundlegende neue Erkenntnisse, die etwa die Standardwerke von Léon Poliakov, Walter Laqueur oder Shmuel Almog - um nur drei besonders prominente Beispiele für Überblickswerke zu nennen - einschneidend korrigieren würden? [1] Die im Band versammelten Beiträge spiegeln weitgehend den aktuellen Forschungsstand zum jeweiligen Bereich wider, die Autoren reichern diesen teilweise auch mit neuen Details an, bieten aber keine spektakulären Entdeckungen. Aber ist das Buch, das offenkundig als einführende Überblicksdarstellung konzipiert ist, deshalb überflüssig? Wohl kaum.
Die Herausgeber treibt erklärtermaßen auch noch ein weiteres Motiv um: Im Vorwort betonen sie, die nüchterne Analyse habe sich in den letzten Jahren zunehmend mit politischen Ambitionen vermischt, was zu einem polemischen Tonfall geführt habe, der die wissenschaftliche Objektivität beeinträchtige. (vii) Das Motto lautet also: Weg vom politischen Handgemenge, zurück zur Sache selbst.
Man muss diese etwas zu strikt ausfallende Unterscheidung nicht teilen, um Lindemanns einführenden Beitrag zur "Jewish Question" zu verstehen. Darin greift er zahlreiche nichtjüdische counter-narratives auf, um zu verdeutlichen, dass Judenfeindschaft nicht immer dasselbe wie Antisemitismus sei. So schreibt Lindemann, der ägyptische Pharao, dessen Herz Gott laut Bibel verstockt hatte, habe selbst nach der biblischen Überlieferung triftige politische Gründe gehabt, den Juden zu misstrauen: "If the Egyptian reaction is to be considered a model of subsequent anti-Jewish feeling, it is worth noting that the driving emotion is presented in Exodus as an understandable dread about the Jews' growth in numbers, linked to their dubious fidelity to the pharaoh and the likelihood of their joining Egypt's many enemies." (21)
Gerade aber weil es angesichts einer in der politischen Öffentlichkeit zunehmenden Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs so wichtig ist, genau zu definieren, was Antisemitismus ist und was nicht, wäre es wünschenswert gewesen, dass die Herausgeber zur begrifflichen Klärung beitragen. Doch das dafür vorgesehene einleitende Kapitel verliert sich leider in der Schilderung von diversen Ansätzen, ohne sich selbst auf eine eindeutige Position festzulegen. Wo die Herausgeber doch einmal eine Definition wagen - "Antisemitism is in some deeply significant sense a hatred like no other - the longest hatred" (8) - , verbleiben sie so sehr im Ungefähren, dass der Vorwurf der Redundanz sich geradezu aufdrängt: Judenfeindschaft ist eine spezifische Form von Feindschaft gegen Juden.
Leider haben diese theoretischen Defizite Folgen für das Gesamtkonzept des Buches: So bleibt unklar, warum die Beiträge überhaupt unter den Titel "Antisemitismus" gestellt werden und was ihr gemeinsamer Referenzpunkt ist. Die verschiedenen Haltungen gegenüber Juden werden auf diese Weise formal unter einen Begriff subsumiert, der ja erst im 19. Jahrhundert aufgekommen ist und die spezifisch rassistisch argumentierende Judenfeindschaft meint. Freilich ist der Antisemitismus keine reine Erfindung des 19. Jahrhunderts, sondern hat eine multiple Vorgeschichte, an die moderne Judenfeinde anknüpfen konnten. Dennoch ist es eben nicht dasselbe, wenn die Staatsgewalt im antiken Rom gegen eine widerständige Bevölkerungsgruppe vorgeht oder wenn radikale Intellektuelle im 20. Jahrhundert gegen die metaphysische Bösartigkeit jüdischen Blutes die Stimme erheben. Diesen Unterschied deutlich zu machen und zugleich unter dem Titel der Judenfeindschaft eine Form zu finden, die Geschichte der Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung der Juden zu erzählen, wäre wünschenswert gewesen.
Dieser konzeptionellen Schwächen ungeachtet bieten die einzelnen Beiträge, die von ausgewiesenen Fachleuten auf dem jeweiligen Gebiet verfasst wurden, ein reichhaltiges und beeindruckendes Panorama dieser Geschichte. Abgesehen von den Aufsätzen István Deváks über Antisemitismus in Osteuropa seit 1848 und Norman Stillmans Darstellung arabischer Judenfeindschaft vor 1948, die kurz vor Ende noch als eine Art Exkurs eingeschoben werden, folgt der Aufbau des Bandes einer altbekannten Chronologie: Von der Antike über die (früh-)christliche Ära, das europäische Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis zur Moderne mit dem Nationalsozialismus als negativem Kulminationspunkt und dem militanten islamischen Antizionismus als dessen Nachwehe.
Auch hier stellen sich Fragen ein: Judenfeindschaft erscheint vor dem Hintergrund dieser Gliederung als genuin abendländisches Phänomen, die islamische Welt scheint - abgesehen von entsprechenden Tendenzen im Koran - erst mit dem Anbruch der Moderne antijüdische Sentiments hervorgebracht zu haben. Norman Stillman, zweifelsohne gegenwärtig der beste Kenner der Geschichte der Juden in der islamischen Welt, soll auf wenigen Seiten eine 1400 Jahre und drei Kontinente umfassende Geschichte abhandeln, wohingegen den 'europäischen Epochen' um ein Vielfaches mehr an Platz eingeräumt wird. Das provoziert grobe Reduktionen wie die, dass Stillman von einem vierseitigen Abriss über den traditionellen islamischen Antijudaismus (212) direkt zum modernen Antisemitismus (216) springt, der in Form der Damaskusaffäre Mitte des 19. Jahrhunderts von christlichen Mönchen aus Europa importiert worden sei. Die Frage, warum dieser westliche Antisemitismus in arabischen Ländern auf so fruchtbaren Boden fallen konnte, warum er innerhalb von weniger als hundert Jahren zumindest in Grundzügen zu einer Art Konsens in der islamischen Welt werden konnte, wird ausgeklammert. Weder die zahlreichen, periodisch das ganze Mittelalter hindurch wiederkehrenden antijüdischen Pogrome (vor allem in Persien und Marokko) werden erwähnt, noch wird die äußerst ambivalente Situation der Juden in den einzelnen muslimischen Ländern eingehend erörtert.
Trotz dieser Versäumnisse eignet sich der Sammelband Antisemitism. A History gut als Überblicksdarstellung für Einsteiger in die Materie. Auch Fachleute dürften einzelne Beiträge gewinnbringend lesen, aber mit der theoretischen Fundierung sowie dem Aufbau der Arbeit ihre Probleme haben. Nichtsdestotrotz ist die Lektüre lohnenswert und fügt dem komplexen Mosaik der Antisemitismusforschung einige farbige Steinchen hinzu.
Anmerkung:
[1] Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus in acht Bänden, Worms 1977-1998; Walter Laqueur: The Changing Face of Antisemitism: From Ancient Times To The Present Day, Oxford 2006; Shmuel Almog (ed.): Antisemitism Through the Ages, Oxford 1988.
Philipp Lenhard