Rezension über:

Regula Schorta / Rainer C. Schwinges (Hgg.): Fashion and Clothing in Late Medieval Europe - Mode und Kleidung im Europa des späten Mittelalters, Basel: Schwabe 2010, 243 S., ISBN 978-3-7965-2585-8, EUR 55,00
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Rezension von:
Bea Lundt
Institut für Geschichte und Ihre Didaktik, Universität Flensburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Bea Lundt: Rezension von: Regula Schorta / Rainer C. Schwinges (Hgg.): Fashion and Clothing in Late Medieval Europe - Mode und Kleidung im Europa des späten Mittelalters, Basel: Schwabe 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/17655.html


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Regula Schorta / Rainer C. Schwinges (Hgg.): Fashion and Clothing in Late Medieval Europe - Mode und Kleidung im Europa des späten Mittelalters

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Hochempfindlich und vergänglich sind Flachs, Leinen und Wolle, ja Samt und Seide. Aus dem Mittelalter sind daher nur wenige Kleidungsstücke im Original überliefert. Oft genug verstauben sie in den Heimatmuseen auf Kleiderpuppen; Muster, Schnitte und Maße finden höchstens als Exempel für regionale Besonderheiten Beachtung. In der historistischen Tradition der 'Kostümkunde' des 19. Jahrhunderts werden ältere Gewänder als die einfacheren Vorformen raffinierterer Verhüllungen des Menschen gedeutet. Während hier Rückprojektionen und ein begrenztes, meist heimattümelnd identifikatorisches Interesse vorherrschen, widmet sich die Historische Genderforschung der mittelalterlichen Bekleidung mit großer Aufmerksamkeit, wertet aber in der Regel Schriftquellen und / oder bildliche Darstellungen aus: In ihrer Überblicksdarstellung über den Forschungsstand zum Thema Männer und Frauen im Mittelalter nennt Cordula Nolte 2011 auf allein 19 Seiten Phänomene, die mit 'Kleidung' zu tun haben. [1] Diese definiert den sozialen Stand ihres Trägers oder seiner Trägerin zwischen Armut und Luxuskonsum, verpflichtet zu bestimmten Verhaltensweisen; als Mitgift in eine Ehe eingebracht, prägt sie die Heiratschancen; Machtstrukturen und Zugehörigkeiten zu bestimmten Gruppen werden in Kleidung manifestiert; zugleich werden auf diesem Wege die Nicht-Dazugehörenden marginalisiert.

Im Modus der Gebote und Verbote bezüglich der Bekleidung ihrer Bürger präsentieren Städte auch nach außen ihren wirtschaftlichen Erfolg sowie die Besonderheit ihres urbanen Lebens. Kleidung konstruiert und erhält Alters- und Geschlechtergrenzen und vermittelt damit Sicherheit, aber auch Gruppenzwang. Die kulturwissenschaftliche Geschlechterforschung interessiert sich vor allem für den Umgang der Akteure mit Kleidung in Grenzsituationen wie Maskerade und Verwandlung. Sie untersucht Begriffe der Textilproduktion, etwa das "Weben" und "Gewebe" als Metapher für die Produktion von Geschichtsbildern. Nicht zu vergessen die umfangreiche Körperforschung, die symbolische Bedeutungen der Zurichtung des Körpers entschlüsselt.

Zwischen diesen beiden Zugriffen auf Kleidung und Mode schließt der vorliegende Band eine klaffende Lücke. Er dokumentiert eine Tagung, die 2006 in Kooperation zwischen dem Historischen Institut der Universität Bern sowie der Abegg-Stiftung in Riggisberg (Kanton Bern, Schweiz) stattfand. Wie die beiden Herausgeber, Rainer C. Schwinges (Bern) und Regula Schorta (Riggisberg) in ihrer Einleitung ausführen, geht es ihnen primär um eine Erforschung der materiellen Aspekte von Kleidung aus dem Mittelalter in dichtem Quellenbezug und in Kooperation mit hochspezialisierten Fachleuten aus der Museumswelt. Neben dieser dominanten materialbezogenen Orientierung stehen aber auch aktuelle inhaltliche Fragen der historischen Mediävistik in diesem Band zur Debatte. Seit den entsprechenden Publikationen von Georg Simmel (1905) sowie René König (1967, 1971 sowie 1999) werde Mode als Ausdruck gesellschaftlicher Ordnung untersucht und an einen bestimmten Identitätsbegriff geknüpft, der immer wieder über das angebliche Erwachen eines "Selbst" in der Renaissance datiert werde; dem Mittelalter werde "Mode" daher abgesprochen. Gerade auch am Beispiel der vestimentären Objekte der Sammlungen in Riggisberg aber könne diese These widerlegt werden. Die Publikation will also in interdisziplinärer Kooperation textilkundliche Details mit den sozial-, wirtschafts- und kulturwissenschaftlichen Fragen der Mediävistik verbinden.

In der Tat stellt das Textilmuseum der Abegg-Stiftung für ein solches Vorhaben ein einzigartiges Material zur Verfügung. Werner Abegg, ein Textilindustrieller aus Zürich, legte 1961 den Grundstein für die nach ihm benannte Sammlung von Stoffen. Die Stiftung unterhält in Riggisberg ein Museum, das mehr als 7.000 Stücke zwischen Orient und Okzident enthält, wobei die ältesten Beispiele in der Antike entstanden, die jüngsten zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Museum ist gerade auch mit wertvollen Artefakten aus der Zeit seit dem 12. Jahrhundert ausgestattet, und es gibt bereits einen Schwerpunkt der bisherigen Aktivitäten der Stiftung im Bereich des Mittelalters. Ein Forschungsinstitut mit Fachbibliothek ist dem Museum angeschlossen; es gibt eigene Publikationsreihen. Laufend werden die Stätten renoviert und erweitert. Mit den Hochschulen in der benachbarten Stadt Bern besteht eine langjährige Zusammenarbeit. Dort entstand an der Hochschule der Künste ein eigener B.A.-Studiengang für Textilkonservierung. In der Tat bedarf der Umgang mit textilen Zeugnissen aus vergangenen Jahrhunderten professioneller naturwissenschaftlicher Fachkenntnisse, die im Laufe des Geschichtsstudiums nicht vermittelt werden. Wie auch bei der Präsentation und Deutung vieler anderer Sachquellen aus vormoderner Zeit ist eine solche Professionalisierung unbedingt erforderlich, um die meist schadhaft überlieferten Objekte richtig einordnen und deuten zu können. [2]

Die 18 Beiträge des Sammelbandes sind von dem "Geist des Hauses" geprägt und können an dessen Tradition anknüpfen. Die Autoren und Autorinnen stammen aus Belgien, Deutschland, England, Italien, Schweden, Spanien sowie der Schweiz, dem Gastland der Tagung. In beeindruckender europäischer Internationalität decken sie auch inhaltlich einen breiten Raum innerhalb West- und Nordeuropas ab und zeigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Vertreten sind die Fächer "Textilkunde, Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft" (7). Einige der in den drei Sprachen deutsch, englisch und französisch verfassten Beiträge enthalten eine kurze Zusammenfassung in einer anderen Sprache. Die Texte sind zumeist kurz und pointiert, oft umfassen sie weniger als zehn Seiten. Zahlreiche Abbildungen in bester Farbqualität sowie fachkundige Skizzen erläutern die Aussagen. Der Belegteil zu den Aufsätzen ist sehr umfangreich und zeigt den breiten Forschungs- und Lesehintergrund der Detailstudien.

Der erste Teil widmet sich "einzelnen Gewandelementen" (15-84) und ordnet sie in sozialgeschichtlicher Tradition von "unten" nach "oben", von der Fuß- zur Kopfbedeckung an: Die Erforschung von Schuhen sei hinter der von Kleidung weit zurück, so beklagt June Swann (England). An einem Egodokument eines Studenten aus dem späten 15. Jahrhundert arbeitet Rainer Christoph Schwinges vergleichend modische Vorlieben im Protest gegen akademische Gewohnheiten heraus. Jutta Zander-Seidel (Nürnberg) konstatiert Brüche gegenüber älteren vestimentären Normen gegen Ende des Mittelalters. Dabei sei die weibliche Haube ersetzt worden. Männer setzten Kappen ein, um Freundschaftsbünde zu begründen, so Katharina Simon-Muscheid (Bern). Spannend ist die wirtschaftsgeschichtliche Skizze der innovativen Faktoren bei der Distribution von Tuch um Freiburg herum von Knut Schulz (Berlin).

Vor allem der Hofkultur widmet sich der zweite Teil, "Soziale Schichtung und ständische Differenzierung" (87-136): Es wird die distinkte politische Sinngebung höfischer Gewänder im Deutschen Reich (Jan Keupp, München) und am hessischen Hof (Stephan Selzer, Hamburg) erläutert. Amalia Descalzo Lorenzo, Madrid, belegt den islamischen Einfluss in der Frauenmode Spaniens. Sehr informativ ist die Analyse der Schneidekunst der Werkstätten, die in Diagrammen erläutert wird (Naomi E.A. Tarrant, Edinburgh sowie Margareta Nockert, Schweden). Im dritten Teil, "Symbolische Aspekte von Kleidung und Mode" (139-230), wird vor allem deutlich, dass eine bestimmte Kleidung nicht primär aus Gründen der modischen Aktualität getragen wurde; ein Kleidungsprogramm erfüllte darüber hinausreichend andere Funktionen: Nonnenkleidung etwa war keineswegs eintönig, vielmehr konnte sie sehr kreative Gestaltungen zulassen, so Eva Schlottheuber, Münster. Die Farbgebung am Hof Heinrichs VIII. orientiert sich noch lange an den liturgischen Farben des Kirchenjahrs, so Maria Hayward, England. Eine explizit körpergeschichtliche Fragestellung verfolgt Johannes Pietsch, München. Im 16. Jahrhundert, so weist er nach, gab es einen Bruch mit dem bisherigen ästhetischen Programm, das die "natürliche" Gestalt betonte. Nunmehr galt das Ideal einer geometrischen Formung. Gemeinsamkeit der Kleidung demonstrierte eine freundschaftliche Nähe, etwa zwischen Fürst und Hof (Klaus Oschema, Heidelberg). Zwischen Spanien und Italien existierten starke modische Verbindungen, die Roberta Orsi Landini, Italien beschreibt. Gil Bartholeyns, Brüssel plädiert für eine Bekleidungsgeschichte, die die Gründe für den Wandel von Bekleidung theoretisch durchdringt.

Der Band verhilft zu einer größeren Sensibilität bei der Arbeit mit älteren Quellen und ihrer Deutung und erweitert mit seinen verschiedenen Perspektiven auf Textilien erheblich den Blickwinkel über die alte Kostümkunde hinaus. Schade ist freilich, dass sich unter den Beitragenden keine Spezialisten oder Spezialistinnen für Geschlechterforschung befanden. Das Spektrum der interdisziplinären Kooperation ließe sich sinnvoll in diese Richtung erweitern.


Anmerkungen:

[1] Cordula Nolte: Frauen und Männer in der Gesellschaft des Mittelalters. Darmstadt 2011.

[2] Über die vielfältigen neuen Methoden beim Umgang mit Sachquellen aus der älteren Überlieferung informiert der Leiter des Britischen Museums London ein breiteres Publikum: Neil Mac Gregor: A History of the World in 100 Objects. London 2010. Deutsch: Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten. München 2011.

Bea Lundt