Sebastian Rejak: Jewish Identities in Poland and America. The Impact of the Shoah on Religion and Ethnicity, London / Portland: Vallentine Mitchell 2011, X + 402 S., ISBN 978-0-85303-872-6, GBP 40,00
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In seiner Monographie untersucht der polnische Soziologe Sebastian Rejak, die Auswirkungen des Holocaust auf die ethnischen und religiösen Selbstwahrnehmungen der polnischen und amerikanischen Juden aus sozio-religiöser Sicht. Zeitlich umspannt Rejaks Studie die Zeit von 1945 bis zur Gegenwart. Der chronologischen Entwicklung folgend will er die geschichtlichen und sozialen Veränderungen des polnischen und des amerikanischen Judentums seit Kriegsende aufzeigen.
Die auf breiter Literaturgrundlage erstellte Arbeit gliedert sich in zwei Teile mit je drei Kapiteln. Im ersten Teil stellt Rejak die kulturelle, politische und religiöse Reaktion der amerikanischen, weniger jedoch der polnischen Juden auf die Shoah dar. Dieses Ungleichgewicht ist darauf zurückzuführen, dass im Gegensatz zu Amerika, wo die "Holocaust-Debatte" bereits ab den siebziger Jahren stattfand, in Polen die Auseinandersetzung mit dem Genozid bis in die neunziger Jahre hinein eher marginal blieb. In dieser ersten Hälfte seiner Studie versucht Rejak übergreifende Auswirkungen auf "die" Juden in den beiden Ländern zusammenzufassen und dabei besonders den öffentlichen Diskurs über den Holocaust zu charakterisieren. Im zweiten Teil des Buches, der die allgemeinen Beobachtungen anhand von Individuen verifizieren will, stützt sich der Verfasser auf in den Jahren 2000-2002 durchgeführte Interviews mit Warschauer (49 Personen) und New Yorker Juden (52 Personen) - Holocaust-Überlebende sowie deren Kinder. Wie gingen diese mit der Shoah um? Den Band beschließen ein 16 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis sowie ein Personen-, Orts-, und Sachregister.
Den roten Faden des Buches bildet die Frage, ob Glaube nach dem Holocaust möglich ist und ob die Shoah als ein bloß geschichtliches Ereignis und alleiniges Menschenwerk anzusehen ist, das ohne göttliche Intervention geschah, oder ob sie als von Gott geduldet oder gar inspiriert betrachtet wird und dem Genozid dementsprechend eine spezielle religiöse Bedeutung zukommt. Für Rejak ist die jüdische Religion ein breiter Begriff - ein Phänomen, das er "secular religion" nennt (6). Sie manifestiert sich in einer Vielzahl nichtreligiöser Aspekte und kommt beispielsweise durch bestimmte Rituale, Literatur, Mythen, Ethik, Kunst, Küche und Politik zum Ausdruck. Dabei knüpft der Autor an das Konzept des Begründers des jüdischen Rekonstruktionismus Mordechai M. Kaplan an, der das Judentum als eine selbstständige religiöse Kultur verstand. Diese verdanke sich zwar der Herkunft aus der Religion, müsse aber angesichts einer sich ständig verändernden Welt zur Erneuerung fähig bleiben, was durch Neuinterpretation, also Rekonstruktion ihrer religiösen Quellen erfolge. Rejaks These ist, dass das jüdische Selbstverständnis vor allem seit den 1980er Jahren in einem hohen Maße durch den Holocaust beeinflusst wurde.
Bereits im ersten Kapitel stellt er klar, dass die Bedeutung des Genozids für das jüdische Selbstverständnis das Ergebnis der "Holocaust-Debatte" ist und weniger dasjenige der unmittelbaren Erfahrung der Verfolgung und ihrer Verarbeitung durch die Überlebenden. Diese Debatte - ein bedeutender Gegenstand des öffentlichen Diskurses im Amerika der siebziger Jahre - trug dazu bei, dass die Shoah zur "civil religion" wurde (72). Ebenfalls plausibel ist die Vermutung des Autors, dass der Holocaust den jüdischen Glauben an Gott erschütterte. Dies hatte zur Folge, dass viele Juden nach 1945 zu Atheisten wurden, was Rejak wiederum als Indiz für die Veränderung ihrer Identität betrachtet. Diese durchaus nachvollziehbaren Gedankengänge werden indes durch eine Schlussfolgerung ergänzt, die etwas überraschend klingt, nämlich dass der Holocaust einen viel geringeren Einfluss auf die Religiosität sowie das Gottverständnis der heutigen (vor allem polnischen) Juden ausübt, als üblicherweise angenommen wird. Rejak zufolge resultiert der Atheismus vieler Juden nicht aus den eigenen (traumatischen) Erfahrungen oder aber aus den Kriegserfahrungen ihrer Eltern, sondern hängt eher von der häuslichen und schulischen Erziehung ab. Eng damit verbunden sei die Frage des kollektiven Gedächtnisses, dessen spezielle Rolle bei der jüdischen Identitätsbildung der Verfasser immer wieder hervorhebt. Es handelt sich dabei um eine gezielte, oft instrumentalisierte "Shoah-Politik", die den Holocaust als Mittel benutzt, um jüdische Identität "aufzuhalten". Laut Rejak trug sie dazu bei, dass der Holocaust zu einem Element des jüdischen Selbst- und Fremdverständnisses wurde. Dies sei vor allem bei den amerikanischen Juden zu beobachten, die sich zum Großteil als Opfer bzw. Nachfahren der Verfolgten des Nationalsozialismus verstünden (71).
Es muss allerdings unterstrichen werden, dass es sich hier um eine Studie handelt, die primär den Einfluss der Debatte um die Shoah auf die oben genannten Gruppen untersucht und die Frage nach deren Identität nur am Rande betrachtet. Somit ist der Titel des Buches etwas irreführend, was dem Autor selbst bewusst ist, der bereits in der Einführung (19) darauf hinweist, dass der Titel ursprünglich The Impact of the Holocaust upon the Jews of Poland and America lautete. Es folgt aber keine Erklärung dafür, warum er den Titel um die Identitäts-Komponente erweiterte und was er unter diesen Begriff versteht. Auch im weiteren Verlauf der Darstellung findet sich keine Definition von Identität, während Rejak gleich am Anfang seiner Arbeit eine ausführliche Erklärung der Bezeichnungen Holocaust, Shoah, Churban und Genozid liefert (2-6). Problematisch im Hinblick auf das Gesamtkonzept ist, dass die Holocaust-Debatte in Polen nicht annähernd ein solches Ausmaß wie in den USA erreichte, so dass deren Einfluss nur für einen Teil der Untersuchungsgruppe wirklich greifbar ist - auch deshalb ist der Vergleich an sich wenig ergiebig.
Da Rejak betont, dass die von ihm behandelten Themen sehr komplex sind, meidet er rasche Urteile sowie einfache Antworten, er argumentiert ausgewogen und vorsichtig. Leider enthält die Monographie ein gewisses strukturelles Defizit: Eine straffere Bündelung bestimmter Themenkomplexe wäre ihr zugute gekommen. Nachdem Rejak zunächst allgemeine Beobachtungen aus der vorhandenen Literatur deduziert und dann anhand seiner Fallstudie deren Gültigkeit nachweist, bleibt letztlich auch der Eindruck, nur teilweise wirklich Neues gelesen zu haben. Trotz einiger kritischen Einwände muss man hervorheben, dass es sich bei dieser Studie um eine gründlich recherchierte Arbeit handelt, die auf einer Fülle von Primär- und Sekundärquellen basiert, selbst wenn das zweifellos große Potential der Quellen nicht immer vollständig ausgeschöpft wurde.
Marta Ansilewska