Thomas Großbölting / Raj Kollmorgen / Sascha Möbius u.a. (Hgg.): Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen: Klartext 2010, 213 S., ISBN 978-3-8375-0306-7, EUR 22,95
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Das Jahr 1989 leitete in den Ländern des sozialistischen Blocks einen fundamentalen Umbruch ein, der heute vor allem im Hinblick auf die jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Systeme als abgeschlossen gelten kann. In der Öffentlichkeit und der Zeitgeschichtsforschung begann zeitgleich die Aufarbeitung der Diktatur-Vergangenheit, die auch mehr als zwei Dekaden nach der Vereinigung immer wieder neue Fragen aufwirft und neue Antworten erforderlich macht.
Der länder- und fachübergreifenden Auseinandersetzung mit dieser Problematik widmen sich die zwölf im Aufsatzband vereinten Beiträge deutscher und ausländischer Historiker und Soziologen. Hervorgegangen sind sie aus der Tagung "Ereignis - Selbstdeutung - Deutung: Die Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Europa und ihre Folgen", die vom Institut für Geschichte und Institut für Soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität und der Gedenkstätte Moritzplatz in Magdeburg in Kooperation mit der Landeszentrale für Politische Bildung Sachsen-Anhalt im Juli 2009 veranstaltet wurde.
In der Einleitung legen sich die vier Herausgeber nicht fest. Als verbindende Klammer wird von ihnen die Thematisierung "des historischen Rückblicks auf 1989/90 als kontroverse Erinnerung" (7) postuliert, die in den einzelnen Beiträgen aber letztlich in sehr unterschiedlichem Maß aufgegriffen wird. So beschäftigt sich der erste Aufsatz von Eckhard Dittrich mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen, die für die Erforschung von Erinnerungskulturen von Bedeutung sind. Thomas Schaarschmidt analysiert die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für den alten und neuen antitotalitären Grundkonsens und verweist dabei auf das ihnen innewohnende Konfliktpotential. Als eine "zwiespältige Bilanz" beschreibt Thomas Großbölting das Ergebnis von zwanzig Jahren Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und stellt resümierend fest, dass sie kaum zur "inneren Einheit" beigetragen hat. Sabine Kittel wendet sich in ihrem Beitrag den alltäglichen persönlichen Erinnerungen der Ostdeutschen an "ihre" DDR zu. Anhand von zwei Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern weist sie überzeugend nach, dass "die Menschen [...] vor dem Hintergrund der zeitlichen Distanz immer neue Fragen stellen und Blickwinkel einnehmen, die Antworten dazu sind aber keinesfalls einförmig" (58). Raj Kollmorgen problematisiert die Transformationsprozesse in der Schlussphase der DDR und in den neuen Bundesländern und setzt sich vor dem Hintergrund der Theorie der Gesellschaftstransformation mit der These des "ostdeutschen Sonderfalls" auseinander. Drei kürzere Artikel von Mathias Tullner, Sascha Möbius und Rüdiger Schmidt widmen sich den Ereignissen vom Herbst 1989 in Sachen-Anhalt und speziell in Magdeburg und Halle, die aus der Perspektive der regionalen Opposition und der regionalen Machteliten in den Blick genommen werden.
Darüber hinaus sind im Sammelband zwei Beiträge aufgenommen, die die Demokratisierungsprozesse in Ungarn und in Rumänien untersuchen. Besonders hervorzuheben ist der Aufsatz von Máté Szabó über Ungarns Weg aus dem Staatssozialismus, der nicht nur einen klaren Umriss der Situation nach dem Oktober 1989 und eine konzise Analyse von Opposition und Dissidenz entwirft, sondern auch die Differenz der ungarischen Entwicklungen zu anderen osteuropäischen Gesellschaften ausarbeitet.
Die Beiträge der russischen Wissenschaftler hinterlassen dagegen einen eher ambivalenten Eindruck. Alexander Vatlin widmet sich dem Umgang mit der kommunistischen Geschichte im heutigen Russland, einem aktuellen Thema, das bereits vielfach in anderen Fachpublikationen Eingang gefunden hat. Daher überrascht es nicht, dass der Moskauer Historiker hier auf der Ebene allgemein bekannter Tatsachen bleibt und keine nennenswerten neuen Erkenntnisse vorweisen kann. Der Aufsatz der Soziologen Viktor Voronkov und Elena Zdravomyslova zur Ahnenforschung in Russland bleibt allein schon thematisch außerhalb des in der Einleitung benannten Grundanliegens des Bandes. Zudem stellen die beiden Autoren als Fazit zur "florierenden Ahnenforschung" in Russland fest, dass diese vor allem "eine pragmatische kulturelle Strategie darstellt und auf die Verbesserung eigener Lebenschancen mittels Auswanderung oder Aussichten auf einen Arbeitsplatz gerichtet ist" (107). Um so weniger überzeugt daher ihre abschließende Schlussfolgerung, dass diese (meist teuer bezahlten) genealogischen Bemühungen die Herausbildung einer postsowjetischen Persönlichkeit, des sich erinnernden Menschen, markieren.
Alles in allem spricht der Sammelband Fragen an, denen sich Historiker und Sozialwissenschaftler bei der Erforschung des Diktaturerbes zu stellen haben. Auch wenn nicht alle Texte gleichermaßen überzeugen und trotz der üblichen Probleme dieser Publikationsform stellt er eine Bereicherung für das äußerst komplexe Untersuchungsfeld dar.
Ramona Saavedra-Santis