Rezension über:

Marjory Harper / Stephen Constantine: Migration and Empire (= The Oxford History of the British Empire; Vol. 5), Oxford: Oxford University Press 2010, XIII + 380 S., ISBN 978-0-19-925093-6, GBP 35,00
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Rezension von:
Stefanie Michels
Exzellenzcluster "Die Herausbildung normativer Ordnungen", Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Michels: Rezension von: Marjory Harper / Stephen Constantine: Migration and Empire, Oxford: Oxford University Press 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/19944.html


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Marjory Harper / Stephen Constantine: Migration and Empire

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Die fünfbändige Oxford History of the British Empire (OHBE) wird in einer Companion Series thematisch ergänzt. Der hier zu besprechende vierte Band dieser Series widmet sich nun dem Thema "Migration and Empire". Genauer gesagt geht es um "The British Empire and Empire Migration, 1815 to the 1960s", wie die Autoren Marjory Harper, Historikerin an der University of Aberdeen und Stephen Constantine, emeritierter Professor für moderne britische Geschichte der Universität Lancaster, ihre Einleitung betiteln. Mehr als in der OHBE selbst sollen in der Companion Series neuere Forschungstendenzen aufgegriffen werden. Wahl und Zuschnitt des Themas versprechen dies: Das Buch betrachtet nämlich drei verschiedene Migrationsströme in vergleichender Perspektive: Zunächst der Briten in die Überseegebiete, dann aber auch nicht-weißer Migration innerhalb der Überseegebiete und schließlich der Migration ins Vereinigte Königreich selbst.

Mit der zeitlichen Setzung (1815-1960) versuchen sie die komplexen Phänomene "Empire" und "Migration" zu bändigen. Besonders das kontroverse Thema der Sklaverei wird so umschifft: Der britische Sklavenhandel endete zwar 1807, Sklaverei als Institution existierte im britischen Empire aber bis 1833. Es wird jedoch weitgehend aus der Untersuchung ausgeklammert und durch eine intensive Diskussion der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von "indentured" und "free" non-white migration ersetzt ("Exile into Bondage", 159 ff.).

Harper / Constantine sind die gemeinsamen Autoren des Buches und haben eine stringente Komposition der einzelnen Kapitel gewählt, die dem eiligen Leser jeweils eine pointierte Zusammenfassung bietet. Von insgesamt zehn inhaltlichen Kapiteln befassen sich die ersten vier mit der Auswanderung von Briten vornehmlich in die klassischen Siedlungsgebiete, die "white settler dominions". Diese doch eher klassische Schwerpunktsetzung ist auch dem Forschungshintergrund von Harper (schottische Auswanderung besonders nach Kanada im 19./20. Jahrhundert) und Constantine (Auswanderer und Siedler im britischen Empire und dem Commonwealth) geschuldet. Kanada, Australien und Neuseeland erhalten je ein eigenes Kapitel. Das Kapitel zu Afrika wird durch Südafrika dominiert. Westafrika wird zu Recht, Ostafrika zu Unrecht etwas vernachlässigt. Ein Kapitel befasst sich explizit mit "Non-White Migrants and Settlers" und zwar in Gebiete des Empires, abgesehen vom Mutterland selbst. Der Einwanderung ins Vereinigte Königreich widmen Harper / Constantine ein eigenes Kapitel. So unterschiedliche Migrantionsgruppen wie Iren, Inder oder Menschen aus der Karibik werden verglichen. "No Blacks. No coloured. No Irish" (203).

Die folgenden sechs thematischen Kapitel versuchen noch deutlicher, die Trennung zwischen weißer und nicht-weißer Migration aufzuheben und die Themen komparativ zu behandeln. Dies gelingt an einigen Stellen gut, besonders im Abschlusskapitel zum "Homecoming Migrant". Neben erstaunlich vielen Gemeinsamkeiten zwischen den zurückkehrenden Migranten, ob sie aus Großbritannien oder den Überseegebieten kamen, können Harper / Constantine Unterschiede bezüglich der "bargaining power" (336) konstatieren. Die Komplexität der von ihnen ins Auge gefassten Migrationsströme bringt sie dazu, auch das Konzept der Heimat aus der Sicht der Migranten in Frage zu stellen, und die Vielfältigkeit der "places of belonging" zu betonen (337). Dieser Befund steht jedoch in einem auffälligen Spannungsverhältnis zu der in den geografischen Kapiteln konsequent gestellten Frage nach DER Identität der migrierenden Menschen. In den Kapiteln zu "The Female Migrant", "Child and Juvenile Migration" und "The Emigration Business" schlägt sich das Ungleichgewicht in der Forschungsliteratur zu Gunsten britischer Akteure weiterhin nieder.

Die Stärken des verfolgten Ansatzes zeigen sich noch einmal deutlich in dem zusammenfassenden Kapitel "The Politics of Migration and the End of Empire", das die explizit betriebene Migrationspolitik und die erwünschte Einflussnahme auf die demographische Zusammensetzung des Empire sichtbar macht. Der Vergleich der eingangs erwähnten unterschiedlichen Migrationsströme bricht zum einen die binären Kategorien (weiß / nicht-weiß) auf. Zum anderen ermöglicht der Vergleich strukturelle Erkenntnisse: Migration wurde attraktiv, wenn die lokalen ökonomischen Möglichkeiten nicht Schritt hielten mit dem Bevölkerungswachstum, wie im 19. Jahrhundert im ländlichen Irland und Schottland und in Teilen Indiens und der pazifischen Inseln. Einen Wendepunkt stellt die Zeit nach 1945 dar, in dem Migration für Briten nach Übersee - im Rahmen der Dekolonisierung - unattraktiver wurde, Einwanderung nach Großbritannien besonders aus Indien und der Karibik überdurchschnittlich anstieg und eine spürbare demographische Veränderung in Großbritannien bedeutete. Wie bereits seit dem 19. Jahrhundert in den "white settler colonies" begann in den 1960er Jahren in Großbritannien erstmalig Zuzugsbegrenzung für Commonwealth citizens. Harper / Constantine sprechen hier von "white walls of immigration" (176).

Das Buch verdeutlicht die Bedeutung demographischer Faktoren für politische Entscheidungen. "What in the end mattered were numbers" (146). Beinahe wie ein biopolitischer Rassekampf lesen sich einige der Argumente, wenn es um Bevölkerungszusammensetzung in den Dominions, die Etablierung dualer Arbeitsmärkte und die soziale Fabrikation der gewünschten "rassischen" Zusammensetzung in den jeweiligen Gebieten geht. Ob Harper / Constantine die konsequent gewählte zeitgenössische Sprache, die etwas irritierend an landwirtschaftliche Zuchtmethoden erinnert ("stock", "breed"), in Ironie wählen, muss offen bleiben. Beruhigenderweise kontrastieren sie in jedem Kapitel die sperrigen quantitativen Angaben mit individuellen Stimmen. Diese Stimmen haben sie in Briefen, Tagebüchern und Interviews gefunden, woraus sich eine beeindruckende Zusammenschau ergibt. Auffallend ist jedoch, dass nur an einer Stelle den nicht-weißen Migranten eine politische Stimme gegeben wird: diejenige des jungen indischen Rechtsanwaltes Gandhi und dessen Einsatz für die Rechte indischer Arbeitsmigranten in Südafrika 1913.

Den geografischen Kapiteln ist einleitend jeweils ein kurzer Abschnitt zu den Bevölkerungsgruppen vorangestellt, die in den Gebieten lebten, bevor die "Empire Migration" begann. Dem Fachhistoriker zu diesen Regionen mag hier eine gewisse Halbherzigkeit auffallen. Beispielhaft erwähnt für Afrika sei das komplette Fehlen eines Bezuges auf die "Indian Ocean World", die lange vor Beginn des britischen Empires existierte.

Insgesamt stellt das Buch einen Kompromiss dar zwischen der etablierten Empire-Forschung und neueren Forschungsansätzen, wie der Erweiterung des Fokus auf subalterne Akteure. Besonders der ideologiefreie komparative Ansatz ist dabei positiv hervorzuheben, wobei auf der anderen Seite nicht nur die Differenziertheit weiterhin zu Gunsten weißer Migranten und weißer Siedlungskolonien ausfällt.

Was das Buch leistet, ist eine klare Verdeutlichung des Zusammenhanges zwischen ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren. Der imperiale Wille, duale Arbeitsmärkte zu schaffen - unter enormen bürokratischen, finanziellen und sozialen Kosten - wird hier beeindruckend veranschaulicht. Es hilft so auch zu einem de-kulturalisierten Verständnis der postkolonialen Bedingungen der Gegenwart.

Stefanie Michels