Thorsten Burkard / Markus Hundt / Steffen Martus (Hgg.): Politik - Ethik - Poetik. Diskurse und Medien frühneuzeitlichen Wissens (= Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit; Bd. 1), Berlin: Akademie Verlag 2011, 271 S., ISBN 978-3-05-005100-0, EUR 99,80
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Die "Wissenschaftsgesellschaft" bildet seit geraumer Zeit einen der gängigsten Begriffe zur Beschreibung der besonderen Charakteristik der Gegenwart. In der Tat sind die Wissenschaften im Laufe der Neuzeit im wachsenden Maße zu einer geradezu beherrschenden Bedeutung gelangt, die sie bisher in keiner anderen Epoche besessen hatten. Gemeint ist damit allerdings allein die Wissenschaft im europäischen Begriffsverständnis. In dieser Form dominiert sie heute in der Welt. Die Anfänge jener Entwicklung liegen in etwa zeitgleich mit dem Beginn der Frühen Neuzeit, also um 1500. Selbstverständlich handelte es sich dabei um keinen voraussetzungslosen Prozess, sondern die Traditionen des christlichen Mittelalters und der griechisch-römischen Antike begleiteten ihn zumindest über die ersten Jahrhunderte aufs engste.
Es nimmt also nicht Wunder, dass die Anfänge der modernen Wissenschaften das besondere Interesse der Forschung finden, und zwar nicht erst seit gestern. Eines der neuesten Unternehmungen auf diesem Feld bildet der 2009 eingerichtete Sonderforschungsbereich an der Universität Kiel, der sich der "Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit" widmet. Der Begriff Diskursivierung lässt erkennen, dass wir uns hier auf dem Feld der vor einigen Jahrzehnten aufgekommenen sogenannten Diskursanalyse befinden, die sich insbesondere (aber natürlich nicht allein) mit dem Namen Michel Foucaults verbindet. Der Rezensent muss bekennen, dass ihm dieses Gelände nicht vertraut ist. Um was handelt es sich also bei dem Phänomen der Diskursivierung? Das auf der Internetseite des Vorhabens abrufbare Forschungskonzept teilt folgende Definition mit: "Medialisierung, Formatierung und Legitimierung" bilden die "drei zentralen Koordinaten der Diskursivierung von Wissen". Weiter heißt es: "[...] im Rahmen frühneuzeitlicher Wissensdiskursivierung stellt sich erstens die Frage, wie Wissen auf mediale Angebote reagiert, diese nutzt und zur Geltung bringt; zweitens, welche Formen in dieser Zeit in welchem Kontext besonders produktiv sind, um Wissen zu entwickeln, zu verbreiten und zu plausibilisieren, und drittens, wie Wissensansprüche legitimiert werden können. Medialisierung, Formatierung und Legitimierung bilden somit die zentralen theoretisch-methodischen Bezugspunkte des Forschungszentrums". [1] Auch mehrfaches Lesen dieser Sätze lässt den Sinn des Gemeinten, die Bedeutung der Diskursivierung, mehr nur erahnen als sicher begreifen. Nun bildet der hier vorzustellende Band die erste größere Publikation des Sonderforschungsbereichs, mit der zugleich eine ganze Buchreihe (Diskursivierung von Wissen in der Frühen Neuzeit) eröffnet wird. Man kann sich an dieser Stelle also vielleicht eine nähere Erklärung bzw. Präzisierung des Vorhabens erhoffen. Leider gibt das Vorwort der Herausgeber nur ähnlich kryptische Andeutungen wie die Anzeige im Internet (11). Es kann bei der Wissensdiskursivierung "um Fragen des institutionellen Anschlusses gehen, um die technisch-mediale Vermittlung, um die Etablierung konzeptioneller oder kommunikativer Systeme, die inhaltliche, formale oder prozedurale Entscheidungen regulieren und dabei 'normale', 'evidente' oder 'legitime' Wissensansprüche in bestimmten räumlichen, zeitlichen oder sozialen Zusammenhänge etablieren" (11). So recht verständlich wirken auch diese Beschreibungen nicht, aber man gewinnt den Eindruck, dass es sich bei dem Kieler Sonderforschungsbereich um ein Vorhaben handelt, welches neue Dimensionen der Forschung eröffnet; die bedeutungsschweren und gewichtigen Formulierungen lassen es erahnen.
Wir blicken nun in den vorliegenden Band und erwarten dort nähere Aufschlüsse. Die erste Beobachtung zeigt, dass es sich bei den dortigen Aufsätzen (Ergebnisse einer Tagung des Sonderforschungsbereichs im Jahre 2009) im überwiegenden Maße um literaturwissenschaftliche Untersuchungen handelt (der Buchtitel verspricht etwas anderes). Von zwölf Beiträgen sind sieben im engeren Sinne diesem Fachbereich zuzuordnen. Da geht es unter anderem um "weibliche Strategien der Selbstartikulation in britischer religiöser Lyrik" (Anna-M. Horatschek), um das "Verhältnis von Bukolik und téchne bei Cervantes" (Victor Andrés Ferretti), um den "rinascimentalen Dialog in Spanien" (Javier Gómez-Montero), um die "Transformationen des Heroismus" am Beispiel von J. E. Schlegels Stück "Canut" (Steffen Martus), um die Transformation der Poetik im 18. Jahrhundert (Hans-Edwin Friedrich) und um die "Diskursivierung der Ethik der Selbstsorge im Theater der französischen Klassik" (Rainer Zaiser). Wo nun ist die verbindende Fragestellung aller dieser Beiträge zu finden? Was legitimiert die gemeinsame Veröffentlichung im vorliegenden Band? Die Antwort sollte nach dem bisher Gesagten zwangsläufig im Bereich der zum Hauptthema erklärten "Diskursivierung des Wissens" zu finden sein. Bei Martus geht es um Herrschaftstechniken, wobei das Verhältnis bzw. die Spannung zwischen den Anforderungen der Ehre und dem Gebot der Souveränität im Mittelpunkt steht. Bei Zaiser handelt es sich um den Konflikt zwischen dem "Willen zur Selbstsorge" des Individuums und dem "Druck des gesellschaftlich dominanten moralischen Systems" (55). Horatschek untersucht Gedichte "auf latente Spuren der Vergangenheit, Reaktionen auf dominante Herausforderungen der Gegenwart und emergente Formierungen, die sich erst im Rückblick als zukunftsweisend erkennen lassen" (74). Friedrich behandelt vor allen anhand von Gottscheds "Critischer Dichtkunst", deren Ersterscheinung der Autor merkwürdigerweise mehrfach auf 1721 datiert (statt 1729), Entwicklungslinien der Poetik, die auf Individualisierung und Anthropologisierung zielen. Der Rezensent vermag weder die beschworene (und in ihrer präzisen Bedeutung noch immer unklare) Diskursivierung des Wissens als einigendes Band dieser Aufsätze zu erkennen, noch erscheinen ihm die behandelten Themen als neu und unerhört. Es geht zumeist um verschiedenartige Untersuchungsgegenstände, die auch schon bisher das Interesse der Forschung gefunden haben, freilich nicht unter der preziösen Überschrift "Diskursivierung des Wissens". Im Übrigen vermittelt die Themenzusammenstellung eher den Charakter einer zufälligen Zusammenstellung. Dass die einzelnen Aufsätze mehr oder minder gute und weiterführende Beiträge zur Diskussion der behandelten Fragen bieten, wird mit dieser Feststellung keineswegs in Abrede gestellt. Das sei nachdrücklich unterstrichen.
Ähnliches lässt sich zu den restlichen Beiträgen sagen. Die literaturwissenschaftlichen Aufsätze werden von mehreren thematisch anders orientierten Beiträgen flankiert. Interesse finden unter anderem die "Diskursivierung von Wissen aus Westeuropa" in Russland (Ludwig Steindorff), die "Diskursivierung des Wissens im deutschen Lehr- und Fachgespräch" (Jörg Kilian), "Regulierungswissen und Regulierungspraktiken im chinesischen 17. Jahrhundert" (Angelika C. Messner) und die "Diskursivierung von Wissen durch Sprache" bei Georg Philipp Harsdörffer (Markus Hundt). Auch der jeweilige pflichtschuldige Gebrauch des neuen Leit- und Zauberbegriffs Diskursivierung kann nicht die Erkenntnis verbauen, dass es sich um ganz konventionelle Fragestellungen handelt, zum Beispiel wie erfolgte die Rezeption der westeuropäischen Wissenschaften im zaristischen Russland oder welche Rolle spielten Gespräche bei der Vermittlung von Wissen. Bei diesem Thema erscheint mir übrigens die vollzogene Begrenzung auf den "Katechetik-Diskurs" (vermittelt bekanntes und anerkanntes Wissen) und den "Sokratik-Diskurs" (vermittelt bzw. erzeugt neues Wissen) als nicht überzeugend. Das sokratische Gespräch ist eher darauf orientiert, eigentlich schon vorhandenes Wissen sozusagen ans Licht zu bringen, weniger aber wirkliches Neuland zu erschließen. Die Einschränkung der zu berücksichtigenden Quellen auf Texte der Katechetik und der Sokratik engt die Bedeutung des Gesprächs als Form der Wissensvermittlung und -erschließung zu sehr ein. Gespräche wurden unter anderem in den zahllosen gelehrten Collegia (bestehend seit dem 17. Jahrhundert), in den Kaffeehäusern, an den Mittagstischen der Professoren, bei den äußerst beliebten Spaziergängen durch die Städte und ihr Umland geführt. Quellen dazu gibt es zur Genüge.
Generell sei vermerkt, dass in Sammelbänden, die sich der Beschäftigung mit einem bestimmten Oberthema verschreiben, eine gewisse Allgemeinverständlichkeit der einzelnen Beiträge anzustreben ist. Theoretisch sollen ja alle Texte vom Leser im Zusammenhang gesehen werden; es handelt sich (so wenigstens der Anspruch, vgl. 12) um Ergebnisse einer interdisziplinärer Zusammenarbeit. Da niemand die Fachdiskussion und den Fachjargon aller angesprochenen Disziplinen gleichermaßen beherrscht, sollte dem in der Darstellung Rechnung getragen werden. Um nochmals auf die Diskursivierung zurückzukommen, so findet sich im Vorwort (8) doch ein Hinweis, der einigen Aufschluss gibt: Dort wird von der Untersuchung der Frage gesprochen, "wie Wissen erworben, verwaltet, popularisiert, tradiert, erneuert oder anderweitig ins Spiel gebracht und aus dem Spiel genommen werden soll". Wenn damit die Diskursivierung von Wissen gemeint ist, so kann der Rezensent dem nur zustimmen, aber neu ist das nicht; nur findet jetzt alles seine Einkleidung in eine neoscholastische Terminologie. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in dem vorliegenden Band im Wesentlichen wieder einmal alter Wein in neuen Schläuchen verkauft wird. Vielleicht lassen sich Forschungsmittel heutzutage nicht anders als durch die erneute Erfindung des Rades requirieren. Am wichtigsten bleibt der Erhalt der umkämpften Geisteswissenschaften. Dem dient auch der Kieler Sonderforschungsbereich und damit der hier behandelte Band.
Anmerkung:
[1] http://www.fzwissen.uni-kiel.de/index.php/forschungskonzept.html (30.11. 2011).
Detlef Döring