Rezension über:

Deborah Mauskopf Deliyannis: Ravenna in Late Antiquity, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XIX + 444 S., ISBN 978-0-521-83672-2, GBP 65,00
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Rezension von:
Hans-Ulrich Wiemer
Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Ulrich Wiemer: Rezension von: Deborah Mauskopf Deliyannis: Ravenna in Late Antiquity, Cambridge: Cambridge University Press 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/18876.html


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Deborah Mauskopf Deliyannis: Ravenna in Late Antiquity

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Deborah M. Deliyannis beschäftigt sich seit langem mit der wichtigsten schriftlichen Quelle für die Geschichte des spätantiken und frühmittelalterlichen Ravenna, dem Liber Pontificalis des Agnellus aus der Zeit um 830 n.Chr.; 2004 hat sie eine englische Übersetzung, 2006 eine Edition des lateinischen Textes vorgelegt. [1] Das hier anzuzeigende Buch geht ausführlich auf die mehr oder weniger gut erhaltenen, teilweise auch nur durch Agnellus bezeugten Monumente in Ravenna und seinem Vorort Classe ein, will aber gleichwohl keine Geschichte der ravennatischen Kunst und Architektur sein, sondern eine Geschichte der Stadt Ravenna in der Spätantike. Die eingehende Behandlung der Monumente - die erste in englischer Sprache (13) - diene dem Zweck, so Deliyannis, die Geschichte dieser Stadt zu verstehen (19).

Das Buch ist folgendermaßen gegliedert: Zur Einführung problematisiert Deliyannis den Begriff der Hauptstadt (capital), skizziert die Geschichte der Erforschung Ravennas seit Agnellus, weist auf die geomorphologisch bedingten Schwierigkeiten hin, mit denen Archäologen hier zu kämpfen haben, und umreißt die Rolle, die Ravennas Monumente in den Debatten über die Kunst und Architektur der Spätantike seit langem spielen (1-20). Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem "römischen" Ravenna (21-39): Archäologische Befunde zeigen, dass die Stadt bereits im späten 3. Jahrhundert v.Chr. existierte, auch wenn sie literarisch erst im frühen 1. Jahrhundert v.Chr. belegt ist. Deliyannis betont, dass die Erhebung zum Flottenstützpunkt durch Augustus der Stadtentwicklung wesentliche Impulse vermittelte, und möchte Indizien, die auf einen Bevölkerungsrückgang im 3. Jahrhundert n.Chr. hindeuten, mit dem Niedergang der Flotte in dieser Zeit verbinden. Im dritten Kapitel (40-105) führt Deliyannis aus, dass die Verlagerung der Residenz nach Ravenna durch Kaiser Honorius einen regelrechten Bauboom ausgelöst habe. Nach einem Abriss der Ereignisgeschichte beschreibt sie, beginnend bei den Mauern, die Monumente, die dort in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts errichtet oder zumindest umgebaut wurden, wobei die von Galla Placidia errichteten Bauten (San Giovanni Evangelista, Santa Croce, "Mausoleum") sowie der Komplex aus Kathedrale, Baptisterium und Bischofspalast besonders eingehend behandelt werden. Deliyannis weist darauf hin, dass es in Ravenna zwar eine Münzstätte, aber offenbar keinen Hippodrom gab, und betont mit Recht, dass Ravenna anders als Konstantinopel niemals den Status eines neuen Rom erlangte (104-5).

Zwei Kapitel und damit nahezu ein Drittel des Buches sind Ravenna als Hauptstadt des gotischen Königreichs in Italien gewidmet (106-200). Wiederum geht der Beschreibung der Monumente ein Abriss der Ereignisgeschichte voraus. Deliyannis argumentiert, dass Theoderich Ravenna bewusst zur Hauptstadt seines Königreichs ausgebaut und damit Rom den Senatoren überlassen habe. Die Einwohnerzahl schätzt sie auf ca. 10.000, bezweifelt aber, dass es so etwas wie ein gotisches Viertel gegeben habe (116). Theoderichs Mausoleum kombiniere römische (12 Apostel) und nicht-römische Motive (Zangenfries), weil der König Goten und Römer gleichermaßen habe ansprechen wollen (136). Anschließend werden dann die Kultgebäude besprochen, zunächst die "arianischen", dann die "orthodoxen": die "Hofkirche" (Sant'Apollinare Nuovo, 146-74), die "arianische" Kathedrale (Santo Spirito, 174-7) mit dem Baptisterium (177-87), die Kapelle im "orthodoxen" Bischofspalast (188-98) sowie die rätselhafte Basilika bei Ca' Bianca in Classe (196-8). Deliyannis bezweifelt, dass in der "Hofkirche" vor dem Umbau eine höfische Prozession dargestellt war, und weist Versuche zurück, die Bildprogramme "arianischer" Kirchen mit spezifischen liturgischen Bräuchen oder theologischen Lehren zu verbinden; dagegen meint sie, im "arianischen" Baptisterium verweise der Oberlippenbart eines der 12 Apostel auf die Inklusion gotischer Christen. Schließlich macht Deliyannis mit Recht darauf aufmerksam, dass drei der großen Kirchen, deren Einweihung in die Herrschaft Justinians fällt, bereits unter gotischer Herrschaft begonnen wurden (Santa Maria Maggiore, San Vitale, San Michele in Africisco): Trotz innerer Querelen vermochte die "orthodoxe" Kirche Ravennas nach dem Tode Theoderichs, aber vor dem Ende der gotischen Herrschaft im Jahre 540, sichtbare Zeichen der Stärke zu setzen.

Auch das sechste Kapitel (201-275), das die Darstellung bis ca. 600 fortsetzt, wird durch einen Abriss der Ereignisgeschichte eingeleitet, insbesondere des mit Hilfe Justinians bewerkstelligten Aufstiegs Ravennas zum (zeitweise autokephalen) Erzbistum. Deliyannis beschreibt zunächst den im Auftrag des Bischofs Maximian gefertigten elfenbeinernen Bischofssthron (213-8) und wendet sich dann den Kirchenbauten in Ravenna und Classe zu, am ausführlichsten San Vitale (223-250), San Michele in Africisco (250-4) und Sant'Apollinare in Classe (259-74). Sie betont die Bedeutung, welche die antiarianische Symbolik und das Zusammenwirken von Kaisern und Bischöfen im Bildprogramm beider Kirchen spielen, geht dagegen nicht auf die potentiell konfliktträchtige Rolle des Bankiers Julianus Argentarius als Geldgeber und Stifter ein. Das kurze siebte Kapitel (276-99) schließt das Buch ab, indem es zunächst die verwickelte Ereignisgeschichte der Jahre 600-850 zusammenfasst (277-88), dann das Stadtbild dieser Periode beschreibt (288-94) und schließlich Agnellus als Zeugnis für die Entstehung eines kommunalen Selbstbewusstseins und ravennatischen Geschichtsbilds analysiert (294-9).

Für Historiker/innen dürfte der Wert dieses Buchs vor allem darin liegen, dass es die weitverzweigte archäologische und kunsthistorische Forschung zu den Monumenten Ravennas in knapper und gut lesbarer Form zusammenfasst und immer wieder deutlich macht, wie sehr alle Deutungen vom Liber Pontificalis des Agnellus abhängig sind. Den größten Nutzen dürfte es stiften, wenn man es als eine Art Kommentar zu dieser Quelle liest. Wer sich freilich für einzelne Monumente und deren Deutung interessiert, wird auch in Zukunft nicht umhin können, das fünfbändige opus magnum Friedrich Wilhelm Deichmanns zu konsultieren, das aus jahrzehntelanger intensiver Beschäftigung mit den Monumenten selbst hervorgegangen ist und einen unvergleichlichen Reichtum an Informationen bietet. [2] Den über die Perihegese hinausführende Anspruch, eine Geschichte Ravennas in der Spätantike zu bieten, löst Deliyannis nicht ein, weil sie die Stadt als wirtschaftlichen und sozialen Organismus oder als Raum kultureller Praktiken kaum behandelt; die im Stil eines Handbuchs erzählenden Passagen über die allgemeine Geschichte der Zeit stehen weitgehend unverbunden neben den ausführlichen Beschreibungen der Monumente. Anders als ihr großer Vorgänger hat Deliyannis auch gar nicht erst versucht, sich über Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur anhand der ja durchaus vorhandenen dokumentarischen Quellen selbst ein Urteil zu bilden, sondern sich mit Verweisen auf die Forschungen anderer begnügt. Als Geschichte einer Stadt bleibt das Buch daher hinter dem Forschungsstand zurück, und wer des Italienischen mächtig ist, sollte weiterhin zu den einschlägigen Bänden der "Storia di Ravenna" greifen. [3] Dem Buch sind sieben Listen von Herrschern und Bischöfen, acht Farbtafeln und 104 Abbildungen im Text beigegeben. Das erleichtert die Lektüre, zumal in den langen ekphrastischen Passagen, und rechtfertigt bis zu einem gewissen Grad den hohen Preis des Bandes. Freilich ist festzustellen, dass die Qualität der Abbildungen, vor allem diejenigen farbiger Mosaiken, teilweise deutlich hinter dem zurückbleibt, was heute in der Public Domain des Internets kostenfrei zugänglich ist.


Anmerkungen:

[1] The Book of the Pontiffs of the Church of Ravenna, Washington, DC 2004; Andreas Agnellus: Liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, Turnhout 2006.

[2] F. W. Deichmann: Ravenna. Hauptstadt des Abendlands, 3 Bde in 5, Wiesbaden 1958-1989.

[3] A. Carile (a cura di): Storia di Ravenna, Vol. 2: Dall' Età bizantina all' Età Ottoniana, 2 Bde., Venedig 1991-1992.

Hans-Ulrich Wiemer