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Ulrike Gehring (Hg.): Die Welt im Bild. Weltentwürfe in Kunst, Literatur und Wissenschaft seit der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2010, 312 S., ISBN 978-3-7705-5051-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Renate Maas
Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Renate Maas: Rezension von: Ulrike Gehring (Hg.): Die Welt im Bild. Weltentwürfe in Kunst, Literatur und Wissenschaft seit der Frühen Neuzeit, München: Wilhelm Fink 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/19232.html


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Ulrike Gehring (Hg.): Die Welt im Bild

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Der vorliegende Sammelband entstand im Anschluss an die interdisziplinäre Vorlesungsreihe "Welt-Bilder. Künstlerische und Wissenschaftliche Konzeptionen der Welt" der Universität Trier im Wintersemester 2005/06. Chronologisch angeordnet geben die Texte einen Überblick vom Wandel des Weltbildes im 15. Jahrhundert bis zu gegenwärtigen Grenzen der Verbildlichung physikalischer Erkenntnisse. Dabei verlagert sich der fachliche Schwerpunkt von den Geistes- zu den Naturwissenschaften. Welt wird als unsere Erde im kosmischen Zusammenhang aufgefasst und scheint nur noch naturwissenschaftlich beschreibbar zu sein.

Diesem Prinzip folgt auch der einleitende Aufsatz der Herausgeberin. Laut Gehring verbreiten die Naturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert Bilder der Welt, die nicht wie zuvor auf Wissen beruhen, sondern auf Ästhetik. Erkenntnis werde erst von den Bildern abgeleitet (18). Einschneidend geschehe das zu Beginn der US-amerikanischen Raumfahrt: Die ersten Ansichten der Erde aus dem All habe man, vor dem Hintergrund des kalten Kriegs, nach westlicher, christlicher Motivtradition gestaltet (31f.). Welt ist nun das, was uns Wissenschaftler als solche vorstellen.

Ähnlich hatten die Physikotheologen in der Aufklärung Wissenschaft und Religion verknüpft. Für die Vertreter des sogenannten Design-Arguments bewies die Komplexität der Natur göttliche Schöpfungskraft. In diesem Zusammenhang interpretiert der Kunsthistoriker Robert Felfe die Kupferbibel von Johann Jakob Scheuchzer von 1731-35. Scheuchzer versuche nachzuweisen, dass sich Wissen über Natur, Technik und Kunst mit der Heiligen Schrift vereinbaren lässt. Unter anderem von der "Zoombewegung der Mikroskope" inspiriert, lassen seine Bilder die sinnliche und übersinnliche Charakteristik der Natur optisch zusammenfallen (170).

Die argumentative Nähe von Physikotheologie und mikroskopischer Wissenschaft wird durch Hans-Ulrich Seiferts Untersuchung von Schriften aus der Frühzeit der Mikroskopie deutlich: Deren Herausgeber haben die im Blick durch das 'Flohglas' gewonnenen Kenntnisse popularisiert und christlichen Vorstellungen angepasst, um beim Volk "das religiöse Bewusstsein für die 'Wunder der Vorsehung'" zu schüren (244f., 247).

Die enge Verbindung von Natur und Gott hatte zuvor Newton mit seinem Postulat eines absoluten Raums als sensorium dei verankert. Hierzu vermittelt Thomas Filk ausführliche Grundlagen, besonders über Newtons Abgrenzung von Descartes relationaler Raumauffassung und die berühmte Briefdebatte mit Leibniz. Grundsätzlich setzte sich Newtons Konzept durch und bestimmt bis heute unser Weltbild. In der Kunstgeschichte leitete es, wie Werner Busch anhand von Joseph Wright of Derbys Tischplanetarium aus den 1760er-Jahren zeigt, eine moderne Naturdarstellung in Form der Visualisierung von Naturgesetzen und die Erfindung der Fotografie ein (226ff.). Die Frage, ob Raum absolut oder relativ sei - vereinfacht: ob unsere Welt container- oder netzwerkartig strukturiert ist - ist gleichwohl unbeantwortet. Unter Physikern beobachtet Filk gegenwärtig eine Tendenz zum relationalen Raumbild (201f.). Offen bleibt, inwiefern ein Mittelweg möglich wäre, den zum Beispiel der Philosoph John Earman in Betracht zieht. [1]

Nach Gehrings Ansicht folgen technisierte Darstellungen ästhetischen Kriterien, weil Weltstrukturen seit Einsteins Erkenntnis der Relativitätstheorie kaum angemessen visualisiert werden können (31). Diese Bilder seien jedoch nicht verifizierbar (36). Dem widersprechen die Beiträge der Geografen Stefan Dech und Tanja Kraus sowie des Teilchenphysikers Albrecht Wagner: Ihnen zufolge haben Satellitenfotos und Bilder von quantenphysikalischen Vorgängen in Messdaten eine objektive Bezugsgröße. In Blasenkammern anschaulich gemachte Spuren von Elementarteilchen etwa sind uneingeschränkt, so Wagner, als "Abbild der 'physikalischen Wirklichkeit'" zu bezeichnen (287f.).

Die ausdrückliche Fokussierung auf die geografische Welt (8) lässt den Begriff 'Welt' in dem Band weitgehend unreflektiert. 'Welt' wird gegenständlich aufgefasst und - wenn von ihrer "Selbstrepräsentation" und "Selbstvergewisserung" im Bild die Rede ist - sogar personifiziert (22, 35). Als menschliche Lebenswelt mit ding- und sozialräumlichen Bezügen wird 'Welt' nicht thematisiert. Auch der Zusammenhang der Begriffe 'Welt' und 'Raum' hätte, gerade angesichts der Ausführungen über Newtons Physik und der Aktualität von Raumfragen in den Kultur- und Sozialwissenschaften, dargelegt werden können.

Mit dem Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart lässt der Band eine für das Thema wichtige Periode aus. Auf Kants Definition des Raums als sinnliche Anschauungsform des Subjekts, die aus seiner Rezeption von Leibniz' und Newtons Konzepten folgte, sowie deren Wirkung auf Künstler und Wissenschaftler wird nicht näher eingegangen. Ebenso fehlen die hieraus um 1900 hervorgehenden phänomenologischen Ansätze und deren Parallelen in der kubistischen Kunst, die am Wandel des Weltbildes in der Moderne beteiligt sind.

Das fällt besonders auf, weil Gehring ihren Leitgedanken von der Welt als ästhetischem Konstrukt mit einem Zitat des Freiburger Phänomenologen Heidegger einleitet (17), dieser aber ansonsten unerwähnt bleibt. Heidegger verband Welt direkt mit dem menschlichen Dasein, das Welt leibräumlich und nicht allein optisch erfährt. Der abschließende Text des ebenfalls in Freiburg forschenden Harald Atmanspacher über die Verknüpfung der Quantentheorie mit unserer Alltagswelt deutet immerhin in die Richtung der phänomenologischen Psychologie und Wahrnehmungsphilosophie. Atmanspacher merkt auch an, dass Welt nicht in allen Aspekten zu verbildlichen ist. Hier könnte die Frage anschließen, inwiefern die Kunst diesen Bereich deckt.

Das Buch weist einige formale Schwächen auf: So hätte man durch eine andere Textfolge Zusammenhänge offensichtlicher machen können, vor allem zwischen den Beiträgen über Newton, die Physikotheologie und die Vermittler frühen Mikroskopierwissens. Nachteilig für die Lektüre sind die kleine und schwache Schrifttype auf beschichtetem Papier und insbesondere die geringe Abbildungsgröße. Sie macht die umfang- und detailreichen Untersuchungen von Philine Helas über den Einfluss der Malerei auf die Erfindung des Globus und von Stefan Brakensiek über Allegorie und Realismus in niederländischer Landschaftsgrafik um 1600 sowie die erwähnten Aufsätze von Busch und Felfe teils schwer nachvollziehbar. Störend und überflüssig wirkt es, dass für sämtliche erwähnte Personen die Geburts- und Sterbejahre genannt werden. Andererseits verzichtet man darauf, physikalische Theorien sowie Fachbegriffe wie 'Albedo' (268) oder 'Boolesch' (298f.) erklärend einzuführen.

Sehr zu bemängeln ist das Vorwort, in dem wörtliche Zitate nicht gekennzeichnet und fehlende Inhalte angesprochen werden. Der Potsdamer Kartoffel etwa kommt in dem Beitrag von Dech und Kraus keineswegs "[b]esonderes Gewicht" zu, sondern es ist nur vom Gravitationsfeld der Erde als einem Beispiel für die Visualisierung von Messdaten die Rede (12, 257).

Insgesamt ist dies ein lehrreiches Buch, von dem Fachwissenschaftler wie Studierende höherer Semester profitieren können. Die thematische und methodische Vielfalt macht neugierig, schärft den Blick über die Fachgrenzen und belebt den Austausch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.


Anmerkung:

[1] John Earman: World Enough and Space-Time. Absolute vs. Relational Theories of Space and Time, Cambridge/Mass. 1989.

Renate Maas