Sigrid Lange: Das Spätwerk von Rudolf Schlichter (1945-1955) (= Studien zur Kunstgeschichte; Bd. 31), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2011, 362 S., ISBN 978-3-8300-5511-2, EUR 88,00
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Rudolf Schlichter zählt zu den wichtigsten Vertretern des neusachlichen Verismus der frühen Weimarer Republik. Sein Werk wurde von Kritikern wie Carl Einstein geschätzt und er besaß enge Kontakte zum Berliner Dadaismus um George Grosz, mit dem er jahrzehntelang korrespondierte. Schlichter war eine Doppelbegabung und zwei seiner auf drei Bände angelegten, durchaus schonungslosen Autobiografien erschienen noch zu Beginn der 1930er-Jahre vor bzw. kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Überdies veröffentlichte oder konzipierte er zahlreiche kunsttheoretische und weltanschauliche Texte, die in eine komplexe und belesene Persönlichkeit einführen können. Zugleich fasziniert die künstlerisch-literarische Doppelbegabung durch ein bewegtes Leben und überraschende Konversionen: Vom Dadaismus zum Katholizismus, vom Kommunismus zur Konservativen Revolution. Der umfangreiche Briefwechsel mit Ernst Jünger - dessen Band Krieg und Krieger hatte Schlichter 1930 titelillustriert und den Autor mehrfach porträtiert - liegt seit einigen Jahren in einer schönen Ausgabe vor und belegt die Nähe Schlichters zum radikalen antidemokratischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit. [1]
Sigrid Langes bereits 2003 vorgelegte, letztes Jahr veröffentlichte Tübinger Dissertation zum Spätwerk Schlichters beschäftigt sich im Unterschied zu den bisher vorgelegten Arbeiten zum Schlichter der Weimarer Republik mit einem eher unbekannten und rasch vergessenen Künstler, der sich seit den frühen 1940er-Jahren zunehmend eine sinistere, surreale Bildwelt erschuf, mit der er zum einen an die künstlerische Entwicklung der Moderne anschloss und trotz sporadischer Selbstversuche immer ein scharfer Kritiker der Gegenstandslosigkeit blieb und er sich zum anderen die Möglichkeit erarbeitete, auf die bestürzende Erfahrung des "Dritten Reichs" und die deutschen Menschheitsverbrechen zu reagieren. Langes Arbeit stellt nach einer knappen Einleitung mit Anmerkungen zum Forschungsstand sowie der stark beschränkten Skizze der kulturellen Situation eines am Boden liegenden deutschen Staates Schlichters Spätwerk seiner letzten zehn Lebensjahre dar. Die Werkbeschreibungen und -analysen sind thematisch gegliedert, nehmen zunächst die gesellschafts- und zeitkritischen Arbeiten in den Blick, bevor sich Studien zu den Porträts, Menschendarstellungen, den mythologischen und religiösen Bildern, den Landschaften und schließlich den wenigen abstrakten Bildern anschießen. Die Arbeit legt anschließend ein mehr als 400 Nummern umfassendes Werkverzeichnis zu den Gemälden, Aquarellen und Zeichnungen vor, von denen ca. 70 leider, oft aber gezwungenermaßen unvollkommen reproduziert werden. Diese Recherchen sind verdienstvoll, und die Studie stellt einen notwendigen Beitrag zur Geschichtsschreibung der deutschen Kunst nach 1945 dar, zumal Schlichter sowohl künstlerisch als auch weltanschaulich als exemplarische Figur profiliert werden könnte. Leider bleibt die Studie hinter dieser Möglichkeit zurück und verschenkt so eine Chance.
Gleichwohl gelingt es der Autorin immer wieder, faszinierende Bildbeispiele zu erörtern. Exemplarisch wird das an dem Blatt Ankunft in Europa deutlich, auf dem Schlichter 1947 vier ghoulenhafte Riesen aus Amerika den alten Kontinent betreten lässt, dessen Abgesandte liebedienerisch-demütig auf die Ankommenden reagieren. Ein Jahr später variierte Schlichter das Blatt in Form einer rein phantastisch-surrealen Albtraumszene, die damit ihren zeitkritisch-kommentierenden Gehalt verlor (58ff. und Abb. 7-9). Besondere Brisanz besitzt das Blatt aber aufgrund der von Lange betonten Tatsache, dass Schlichter auf eine Bildererfindung der Weimarer Republik zurückgriff. Damals waren die Ankömmlinge Ententekommissare - darunter ein von der zeitgenössischen Bildunterschrift bezeichneter "Dawesgeier" in Anspielung auf den amerikanischen Finanzexperten und Politiker Charles G. Dawes -, denen scheinbar der deutsche Außenminister Stresemann die Koffer trug. Dies war eine scharfe Kritik an einer von links wie rechts verunglimpften "Erfüllungspolitik", die Schlichter bereits 1924 mit der offiziellen Politik der Weimarer Demokratie und letztlich mit der Staatsform kollidieren ließ. Die Wiederholung der Geste nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt zweierlei: einmal die begrenzte politische Lernbereitschaft des Künstlers und ferner sein Angewiesen-Sein auf bereits existierende und geeignet scheinende Bildformulare, um die Gegenwart kritisch zu deuten. Hier ergibt sich eine überraschende Kontinuität von der Weimarer Republik in das frühe Nachkriegsdeutschland, die ausgelotet werden müsste, denn so richtig die leider vielfach einfach aneinandergereihten Einzelbeobachtungen Langes auch sein mögen, als Leser der Arbeit vermisst man doch immer wieder vertiefende Interpretationen der Einzelwerke sowie von Schlichters fortgesetzter Methode der Bildvariation, die eine Verbindung zwischen den 1920er- und den 1940er-Jahren stiftet. So wird auch keine zusammenhängende interpretative Genese des Spätwerks aus der zeitgenössischen Erfahrung des 'Dritten Reichs' geleistet; die von der Verfasserin vorgenommene Setzung des Epochenjahres 1945 als Beginn des Spätwerks erscheint fragwürdig, ja nicht gerechtfertigt. Langes eigene Ausführungen zu dieser Entscheidung auf den Seiten 10 und 23 widersprechen sich hier, ohne dass die Verfasserin daraus die entsprechenden Konsequenzen zöge.
Das größte Manko der Studie besteht jedoch in dem Fehlen jeden analytisch-interpretativen und kontextualisierenden Zugriffs, der thesenbildend argumentiert. Die anspielungsreiche, gedanklich wie historisch komplexe Bildwelt Schlichters verlangt einen interdisziplinären, Kunst- und Zeitgeschichte engführenden methodischen Zugriff. Zwar stellt Lange einiges Material bereit, es zeichnet sich auch in ihrer Arbeit deutlich ab, dass Schlichter auch nach 1945 ein wichtiger Künstler blieb. Aber diese Bedeutung liegt überspitzt gesagt nicht - wie die Verfasserin selbst erkennt - in der nicht vorhandenen innovativen formalen Qualität seiner Werke begründet, sondern darin, dass Schlichter trotz seines surrealen Stilidioms zu einer Art malendem Hans Sedlmayr wurde, der den Verlust eines christlich fundierten Menschen- und Weltbildes beklagte und von diesem sogar als Kronzeuge aufgerufen wurde. [2] Dass eine gerade veröffentlichte wissenschaftliche Studie zum späten Schlichter seine wichtige kunsthistorisch-kunstkritische Schrift Das Abenteuer der Kunst nicht eingehend analysiert, bleibt unverständlich und offenbart die traditionelle Zugangsweise der Autorin. [3]
Schlichter begriff in seinen späten Bildern und Schriften den Nationalsozialismus als Fehlentwicklung der Säkularisierungstendenzen der Moderne seit der Französischen Revolution und nicht als Resultat konkreter verantwortbarer politischer Entscheidungen in der zweiten Hälfte der Weimarer Epoche. Damit verdunkelte er die konkreten Ursachen der deutschen Katastrophe eher als er sie erhellte. Gleichwohl schuf Schlichter einige bestürzend düstere Bilder des Grauens, die sich auch nicht davor scheuten, den Terror der Konzentrationslager zu thematisieren. In der deutschen Malerei um 1950 blieb Schlichter damit ein Einzelfall, der heute weiter Aufmerksamkeit verdient. Sigrid Lange hat dazu einen Beitrag geliefert, bleibt aber leider weit hinter den erforderlichen Anstrengungen zurück.
Anmerkungen:
[1] Ernst Jünger / Rudolf Schlichter: Briefe 1935-1955, hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Dirk Heißerer, Stuttgart 1997.
[2] Vgl. Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, 11, Anm. 1. Hier bezieht sich Sedlmayr auf Schlichters Buch "Das Abenteuer der Kunst" von 1949, wenn er von "dilettantischer Lüsternheit", "nihilistischer Geistigkeit", "asiatischer Anbetung des Scheußlichen" und "lebensmüdem Indifferentismus" fabuliert.
[3] Rudolf Schlichter: Das Abenteuer der Kunst und andere Texte, hg. von Dirk Heißerer, München 1998. Das Buch erschien erstmals 1949.
Olaf Peters