Nicholas Canny / Philip Morgan (eds.): The Oxford Handbook of the Atlantic World. 1450-1850, Oxford: Oxford University Press 2011, XXVII + 671 S., 9 Kt., ISBN 978-0-19-921087-9, GBP 85,00
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Das Oxford Handbook of the Atlantic World, 1450 - 1850 ist der energischste Versuch, das Konzept der Atlantischen Geschichte in seinen unterschiedlichen Facetten zu beleuchten und auf seine Anwendbarkeit für die Geschichte auszuloten. Die beiden Herausgeber, der eine Historiker des frühneuzeitlichen britischen Reiches, dem wir die These vom Einfluss englischer Besiedlungstechniken in Irland auf die Kolonisierung Nordamerikas verdanken, der andere Autor der gründlichsten Studie der Sklaverei in den britischen Kolonien Nordamerikas, gehören ohne Zweifel zu den kompetentesten practioners von Atlantischer Geschichte. Beide, Nicholas Canny und Philip Morgan, haben die führenden Köpfe der mittleren Generation englischer und amerikanischer Historiker als Autoren für die Essays in den vier Sektionen des Handbuchs gewonnen.
Die vier Sektionen benennen einen Prozess: "Emergence" (21 - 180) - "Consolidation" (183 - 286) - "Integration" (289 - 495) - "Disintegration" (499 - 648); sie deuten auf ein biologistisches Konzept hin: Ein Wesen entsteht, konsolidiert und bildet sich heraus, dann löst es sich auf und verwest. Wie ein Staat ist die "Atlantische Welt" in dieser Ordnung der Sektionen ein Körper. Die biologistische Struktur erzwingt Geburt und Tod, Anfang und Ende. Daraus ergeben sich vier Folgen: Erstens, Atlantische Geschichte erreichte mit den Revolutionen und damit den Lösungen der Kolonien von ihren europäischen Mutterländern ihr Ende. Damit ist zweitens auch gesagt, Atlantische Geschichte sei die Geschichte der atlantischen Kolonialreiche. Die Überschriften der Essays in der zweiten Sektion signalisieren genau dies: Sie reden vom "Spanish Atlantic", von der "Portuguese Atlantic World", vom "British Atlantic", von der "French Atlantic World" und dann als kleine Fußnote noch von den Stimmen der ersten Bewohner Amerikas und von den afrikanischen nach Amerika verschleppten Menschen. Nach diesem Ordnungsschema gilt, dass wenn diese Kolonialreiche zerfallen, auch das Konzept der Atlantischen Geschichte seine Berechtigung und Inhalt verlieren würde.
Problematisch ist drittens die Ausschnitthaftigkeit der Beiträge: Die englische Politik galt nie nur für den atlantischen Raum, sondern auch für jene Kolonien, die England im beginnenden 19. Jahrhundert in Asien besaß; der Schwerpunkt des portugiesischen Kolonialreiches lag eh in Asien und dies gilt auch für die spanischen und französischen Kolonialreiche. Dass das niederländische Kolonialreich ganz fehlt ebenso wie sogenannte sekundäre Kolonialreiche wie Schweden und Dänemark, ist verwunderlich und unerklärlich. Für die berücksichtigten Kolonialreiche präparieren die Artikel Ausschnitte aus den jeweiligen kolonialpolitischen Programmen und politischen Initiativen heraus. In diesem Konzept ist Atlantische Geschichte viertens überwiegend an reichspolitische Aktivitäten gebunden. Nur Menschen, die entweder im Dienst solcher Kolonialreiche standen - Christoban Columbus und Giovanni da Verrazzano aus Genua etwa fallen da ein - finden Berücksichtigung; Einwanderer aus anderen europäischen Ländern fallen durch die Maschen dieses Konzeptes, es sei denn, sie kommen als Sklaven aus Afrika. Fünftens zieht sich durch das Handbuch der Begriff "Bewegung" als Handel von Gütern, als freiwilliger oder erzwungener Migration von Menschen und als Transfer von Ideen und Konzepten.
Wie wirkt sich die Grundstruktur des Handbuchs auf die einzelnen Beiträge aus und welche Folgen ergeben sich daraus für die Darstellung? Um dies zu ergründen, werden wir uns aus jeder Sektion zwei Beiträge genauer ansehen. Für die erste Sektion sind dies die Beiträge von David Northrup über "Africans, Early European Contacts, and the Emergent Diaspora" (38-54) und David S. Shields über "The Atlantic World, the Senses and the Arts" (130 - 146). Aus der zweiten Sektion erörtern wir den Artikel von Joyce E. Chaplin, "The British Atlantic" (219 - 234) und jenen von Kevin Terraciano über "Voices from the Other Side: Native Perspectives from New Spain, Peru and North America" (252 - 270) ausführlicher. Aus den Aufsätzen der dritten Sektion werden wir jenen von David Hancock über "Atlantic Trade and Commodities, 1402 - 1815" (324 - 340), von Elizabeth Mancke zu "Polity Formation and Atlantic Political Narratives" (382- 399), und wegen der Länge der Sektion zusätzlich den von Kenneth Mills über "Religion in the Atlantic World" (433 - 448) herausgreifen. Aus der letzten Sektion haben wir die Beiträge von David Armitage über "The American Revolution in Atlantic Perspective" (516 - 532) und jenen von Robin Law, "Africa in the Atlantic World, c.1760 - c.1840" (585-601) ausgewählt.
Der Beitrag von David Northrup, einem der wenigen zu diesem Thema ausgewiesenen Historiker [1], ist in vier Unterabschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt "Diplomatic Relations" (39-43) werden die Anfänge von Portugals diplomatischen Beziehungen und des Handels mit den afrikanischen Königreichen entlang der afrikanischen Westküste geschildert. Der Leser lernt, dass sich diese Kontakte kaum von jenen mit europäischen Staaten unterschieden: Die Delegierten lernten die Sprache der europäischen Macht und diese revanchierte sich mit der Forderung, dass die afrikanischen Monarchen sich zum Christentum bekehren und Missionare in ihr Land lassen sollten. Die Frage nach diplomatischen Gepflogenheiten beider Seiten wird nicht gestellt. Betont wird, dass Portugal wie die afrikanischen Monarchien das Kontakt- und Handelsmonopol beanspruchten; aber beide lernten schnell "the benefits of mutual cooperation" (41). Offensichtliche Parallelen zwischen den europäischen Kontaktaufnahmen mit nordamerikanischen "Stämmen" werden nicht diskutiert. [2] Kleinere Anomalien stören das harmonische Bild: Der portugiesische Kapitän nahm die ersten kongolesischen Delegierten als Geiseln zum Schutz für drei portugiesische Missionare, die ins Innere des Kongo zogen (42). Northrup schließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung, dass "African rulers in coastal Angola had to share power with the Portuguese. Beyond the coastal enclaves of Angola [...] power rested in African hands." (43). Diese Schlussfolgerung unterstreicht noch einmal die These des Autors von der Ausgeglichenheit der diplomatischen Beziehungen afrikanischer Staaten mit Portugal, England und den Niederlanden. Wenn dem so war, dann versteht man nicht, weshalb Europäer nie afrikanische Sprachen lernten und afrikanische Staaten immer der Forderung nachgaben, christliche Missionare in ihr Land zu lassen. Beim Leser verdichtet sich der Verdacht, dass der Autor das Konzept europäischer diplomatischer Beziehungen auf afrikanische Staaten übertrug und sich ihm die Frage nach eigenen afrikanischen Gewohnheiten, Ritualen und Interessen überhaupt nicht stellte.
Der zweite Abschnitt von Northrups Beitrag ist den Wirtschaftsbeziehungen gewidmet. Wiederum liegt der Schwerpunkt auf den Exporten aus Afrika nach Europa: Gold, Gewürze, Holzprodukte, afrikanische Textilien und Sklaven beherrschten den afrikanischen Export; der Export von Sklaven nahm erst nach 1650 ein Ausmaß an, welches zu "strongly disfunctional changes" in diesen Staaten führen sollte (49). Fragen nach der Bedeutung der Exporte für die afrikanischen Wirtschaften und Gesellschaften bleiben ausgespart ebenso wie die Frage, welche Produkte die europäischen Schiffe in die afrikanischen Länder brachten und welche Auswirkungen diese auf das Leben der afrikanischen Konsumenten hatten. Beschreibung, nicht aber Analyse der Interaktionen bestimmen den Abschnitt. Dies erhoffte man sich vom dritten Abschnitt über "Cultural Interactions" (49-54). Der erste Teil ist der Sprachenproblematik gewidmet. Dem Autor zufolge setzte sich hier in den afrikanischen Handelsplätzen zumindest in der ersten Phase Portugiesisch als die lingua franca durch; später verbündeten sich Europäer mit afrikanischen Frauen als Konkubinen, die für ihre europäischen Partner die linguistische Kleinarbeit mit ihren Landsleuten übernahmen (50). Aus diesen Ansätzen entstanden in Westzentral-Afrika "eurafrican" Mittelsleute. Der zweite Schauplatz für kulturelle Interaktionen habe die christliche Mission gebildet. Daraus resultierende Ansätze zur Akkulturation seien additiv gewesen und hätten ältere afrikanischen Verhaltensweisen und religiöse Bräuche nicht verdrängt (53) - eine These, zu der man gerne mehr erfahren hätte. In seinem Résümee betont der Autor, dass um 1650 "the sub-Saharan African coast had joined those along the Sahara and the Indian Ocean as a conduit for political, commercial, and cultural exchanges" (53-54, Hervorhebung von mir). Auch hier ist nur vom Austausch die Rede. Dem möchte man als Leser gerne zustimmen. Es bleibt jedoch der Eindruck, dass dieser Austausch zwischen der afrikanischen Westküste und Europa eher eine Einbahnstraße war. Vielleicht fehlen für eine differenzierendere Analyse die Vorarbeiten - aber dann wäre es gut gewesen, wenn dies gesagt worden wäre. So bedient der Artikel das Vorurteil der Historiker, dass afrikanische Staaten nur Zulieferanten für Europa und ansonsten reine Ausbeutungsobjekte gewesen seien, für die die Teilnahme an einem interaktiven atlantischen Beziehungsgeflecht unmöglich war.
Deutlich komplexer ist die Argumentation in David S. Shields' Beitrag "The Atlantic World, the Senses and the Arts" (130-146). Er ist nach den Sinnesorganen gegliedert. Für seine Analyse stützt sich Shields auf zeitgenössische gedruckte Werke und bildliche Darstellungen. Der Leser lernt viel über die Entstehung und die kulturelle Bedeutung des Parfüms ("The Islamic Middle east placed a premium upon refined fragrances", 131), das erst zu Zeiten von Elizabeth I. in England eingeführt wurde, über Tabak, dessen Einführung in Europa "would have the greatest consequence" und über "native pharmacopoeia and ritual plant uses [which] led to an expansion of the odoriferous materials imported from the New World" (133). Ob Europäer für amerikanische Bewohner "Stinktiere" waren und welche Bedeutung geruchsverfeinernde Parfüme für die Entwicklung europäisch-höfischer Kulturen hatten, bleibt unausgelotet. Dies Manko gilt auch für Shields zweiten Abschnitt über den Geschmackssinn ("The Tongue", 134-138). Seine Analyse der Gärten von westindischen Sklaven eröffnet jedoch einen Blick auf eine Geschmackskultur, die sich aus drei Kontinenten zusammensetzte (137) - die sich aber angesichts eingefahrener europäischer und nativer Geschmackskulturen bei den europäischen Gaumen nicht durchzusetzen vermochte. Komplexe Interaktionsmuster werden in Shields Abschnitt über das Gehör ("The Ear", 138-141) beschrieben. Dies gilt für das Eindringen des "Quetzalcóatl cult" in die christlich-liturgische Musik katholischer Missionare. In den spanischen Kirchen Lateinamerikas wurden die indigenen Bewohner zu Trägern der Kirchenmusik; dies trug dazu bei, die Attraktivität der christlichen Lehre für "native performers and auditors" zu erhöhen und ebnete den Weg für eine Vermischung nativer und europäischer Musikelemente in geistlichen Gesängen auch außerhalb der Kirche (140). Der dritte Abschnitt über "The Eye" setzt ein mit Albrecht Dürers Reaktion auf die wundersamen Schätze Karls V. aus Lateinamerika, die 1520 in Brüssel zu besehen und für Dürer Beweis für göttliche "creative potency" waren. Damit ordnet er die Natur Amerikas ein in einen größeren europäischen Kosmos, in dem positive Menschendarstellungen wie die von John White auf die Bilder der Schrecken spanischer Kolonisation prallten. Denn jene "oscilate[s] between being a theatre of depraved violence and a pastoral world of Edenic nature" (143).
Shields' Einsichten hätten an Tiefendimensionen gewonnen, wenn Wahrnehmungen afrikanischer Bewohner, wie sie von der portugiesischen Historikerin Marília dos Santos Lopes analysiert wurden, mit in die Überlegungen einbezogen worden wären.[3] Dies gilt auch für den Abschnitt "The Touch" (143-146). Dieser setzt ein mit Thomas Harriots wichtiger Beobachtung, dass des Europäers Berührung des indigenen Bewohners Tod war (144). Wiederum bleibt es bei dieser europäischen Wahrnehmung; aus Giovanni da Verazzanos Bericht hätte Shields lernen können, dass Berührung auch zentraler Bestandteil amerikanisch indigener Kontaktwahrnehmung mit Europäern bildete und dass Kontaktvermeidung als Lehre aus dieser Erfahrung schnell von indigenen Bewohnern begriffen wurde.[4]
Aus seinen spannenden Darlegungen von Interaktionen und Diskussionen sinnlicher Wahrnehmungen - etwa seine Bemerkung zur "spatial vacancy" (145) - leitet Shields eine Frage von grundlegender Bedeutung ab: "Did the experience of the Atlantic world suggest the reality of a human sensus communis?" (145) und, bedeutete "the possibility of experiencing the world differently influence the self-understandings of the myriad non-Western peoples of that Atlantic world"? (145). Sein Resümee, dass es vielleicht keinen "unitary sensus communis[.] [B]ut rather multiple communities of sense" gegeben habe, ist aufregend. Es hätte Leitthema seines Beitrages sein können!
Der Beitrag der Harvard Historikerin Joyce E. Chaplin (219-234) geht von einem anderen Ansatzpunkt aus: Ihr Leitgedanke ist die Frage, wann der Begriff "British Atlantic" entstand. Ihre Antwort lautet: In der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Im ersten Abschnitt ihres Beitrages (219-226) schildert sie die Gründung der englischen Kolonien als Frucht privater Initiativen, die von der englischen Regierung mildtätig gefördert wurden. Im zweiten Teil (226 - 231) "wuchsen" diese Kolonien zu separaten Einheiten heran, die sich zunehmend Britisch empfanden, aber "the Britons did not regard their settler cousins as equals" (231). Erst nach 1740 ersetzte der Begriff "British Atlantic" den älteren Begriff "Western Ocean" (231) - und von dem Zeitpunkt an wurde das zuvor friedliche Verhältnis zwischen dem Mutterland und seinen Kolonien konfliktgeladen. Der Rest ist bekannt. Chaplins Beitrag ist eine sehr nordamerikanische kompetente Zusammenfassung dessen, was die Forschung weiß. Neue Ansätze werden sorgfältig vermieden; nicht-britische Wesen wie etwa Einwanderern aus Schweden, den Niederlanden oder Deutschland bleiben unerwähnt. "The Atlantic World" à la Joyce Chaplin besteht aus bescheidenen Anfängen im 16. Jahrhundert, entsteht aber in Wirklichkeit begrifflich erst um 1740, feiert dann ein konfliktreiches kurzes Leben, das 1783 unter Schmerzen ausgehaucht wird. Requiescat in pace.
Ganz so einfach und kurzlebig ist die Atlantische Welt von Kevin Terraciano in dessen Beitrag (252 - 270) nicht. In den ersten beiden Teilen werden Proteste von Sprechern lateinamerikanischer indigener Kulturen gegen Übergriffe spanischer Kolonialbehörden in Lateinamerika ausführlich (und spannend!) geschildert. Nur gelegentlich wird auf die abweisenden Reaktionen des spanischen Hofes auf diese Proteste verwiesen. Im dritten und letzten Teil schildert der Autor die inszenierten Besuche indianischer Häuptlinge in London als nordamerikanische native Reaktionen auf die britische Kolonisierung.[5] Der Beitrag wirft eine konzeptuelle und eine inhaltliche Frage auf: Zur inhaltlichen: Ist die Spannbreite der nativen Reaktionen auf die britische Kolonialpolitik ausreichend mit der Schilderung der inszenierten und von den britischen Kolonialbehörden finanzierten Englandbesuche von indianischen Häuptlingen erfasst? Bieten die vollständig veröffentlichten Verhandlungsprotokolle der Stämme in Nordamerika mit den Kolonien und den Indian Superintendents nicht viel mehr Material zu indianischen Beschwerden über die Politik der Kolonien und des Mutterlandes? [6] Dies leitet über zur konzeptionellen Frage: Wäre denn die Schilderung indianischer Positionen in Vertragsverhandlungen in Nordamerika Teil einer atlantischen Geschichte gewesen? Oder sollte man diese nicht als inneramerikanische Diskussion zwischen Kolonisten und indigenen Populationen und damit als Teil klassischer Kolonialgeschichte bezeichnen? Träfe das erste zu, dann hätte der Autor in den ersten beiden Teilen seines Beitrages sein Thema verfehlt und im letzten das Thema nur lückenhaft insoweit erfüllt, wie ab 1756 Vertreter der englischen Regierung Verhandlungsführer waren. Sicherlich wäre es wichtig, das spannungsreiche Verhältnis zwischen innerkolonialen und atlantischen Dialogen genauer zu bestimmen. Darauf ist zurückzukommen.
Der dritte Teil des Handbuchs ist mit dem Begriff "Integration" überschrieben. David Hancock schildert sie in seinem Beitrag (324-340) aus der Perspektive des Wirtschaftshistorikers. Der Autor kennt Anfang und Ende: Am Anfang stehen 1420 die ersten Handelskontakte Portugals mit der westafrikanischen Küste. Der Handel beginnt mit staatlich privilegierten Unternehmungen, die sich, als der Handel umfangreicher wurde, neue organisatorische Formen schufen, die "regulated company", dann die Aktiengesellschaft, die Firma im Familienbesitz und endlich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die "private companies" (336-337) als flexibelster Organisationsform in einem sich nun immer stärker liberalisierenden atlantischen Handels. Damit ist nach Hancock das Ende des Handels im atlantischen Raum erreicht. Diese Darstellung wird durch das Abarbeitung von Stichworten wie Edelmetallhandel (325-326), Handelsbehörden (326), spanische, dann niederländische Dominanz des atlantischen Handles im 17. Jahrhundert (327-328) und der Schilderung der portugiesischen, französischen und englischen Anteile am Handel im gleichen Zeitraum (328-329) ergänzt. Nach dem gleichen Muster wird der atlantische Handel im 18. Jahrhundert (330-332) beschrieben. Diesen chronologisch aufgebauten Teilen folgen Abschnitte über die Entwicklung im Schiffbau, Küstenschifffahrt und Geldverkehr im Atlantischen Handel (334-335). Dies geschieht kompetent, erinnert aber an die Aneinanderreihung von Lexikonartikeln. Die gesamte Darstellung folgt dem eingangs bemerkten biologistischen Muster - nur dass dies hier nicht als Verfall, sondern als fortschreitende Handelsliberalisierung dank des grundlegenden Wandels der kolonialen Wirtschaften gedeutet wird (339). In seinen Schlussthesen werden Ansätze einer Verknüpfung des atlantischen Handels mit Makrostrukturen der Wirtschaft erkennbar, die man sich als Leitgedanken des gesamten Artikels gewünscht hätte.
Elizabeth Manckes Beitrag zu "Polity Formation and Atlantic Political Narratives" (382-399) erweist sich schon vom Titel her als Kind rhetorisch-politischer Korrektheit auf hohem theoretischem und oft unverständlichem Niveau. Ihr Ausgangpunkt ist die Ausbildung von "autonomous and semi-autonomous polities". Diese werden als Gegensatzpaar zu dem Konzept der "state formation" begriffen. Bei der Ausbildung der politischen Gemeinwesen ("polity") unterscheidet sie zwischen drei Formen: "diasporic, niche, and consolidating and integrative polities". (383) Als "diasporic polities" werden "far-flung networks of culturally alien people to whom local authorities granted self-governing privileges" definiert, die keine eigene territorial Basis besaßen (383). Als Beispiel nennt sie "English Merchant Adventurers" (383). "Niche polities" sind für Mancke etwa "Genoa or Venedig", die durch ihre besondere Fertigkeiten etwa im Bankwesen für "consolidating and integrative polities" attraktiv (383-384) gewesen seien, aber auch Gemeinwesen wie die Channel Islands. Als Beispiel für Statusveränderungen dient der Autorin Schweden, welches nach dem Ende des Nordischen Krieges von einer "consolidating and integrative polity" auf den einer "niche polity" abgesunken sei (384). Hinter dem Begriff der "consolidating and integrative polities" endlich verbergen sich für Mancke die guten alten Kolonialmächte, aber auch die Irokesische Konföderation und afrikanische Königreiche (384-385). Der Leser fragt sich natürlich nach dem Nutzen eines solchen Konzeptes. Dies besteht nach der Autorin darin, dass es den Historikern erlaube, "to orient ourselves away from the analytic limitations of existing categories of polities" (385). So ganz vermag dies nicht zu überzeugen. Als Konzept ist es auch nicht so neu, wenn man sich zum Beispiel an das Klassifikationssystem von Heinz Duchhardt in Balance of Power und Pentarchie mit den Kategorien "Mächte der Pentarchie", "Absteiger", "Schwellenmächte" und "Kleinen und Passiven" erinnert. [7] Trotzdem besitzt das Manckesche System einen Vorteil gegenüber dem von Duchhardt: Die Kategorie der "diasporic polity" erlaubt die Integration von halbstaatlichen Gemeinschaften als Handlungsakteure in die internationale Gemeinschaft - wobei die Verfasserin gerade diesen Vorteil für die atlantische Welt nicht ausschöpft. Hier wären etwa Kaufmannsverbände, deren Gemeinsamkeiten durch die gemeinsame religiöse Zugehörigkeit definiert wurde, zu erörtern gewesen, zu denen, für jüdische und Quäker-Kaufleute, die Inhaberin der Professur für Nordamerikanische, Atlantische und Karibische Geschichte (Hamburg) Claudia Schnurmann die Manckes Konzept gegenläufige überzeugende Theorie aufstellt, dass diese sich in ihrem kaufmännischen Verhalten eben überwiegend nicht an dem Faktor gleicher Glaubensüberzeugung orientierten. [8] Trotz neuer konzeptueller Ansätze bleibt der Beitrag, immer wieder in eingefahrenen, allerdings rhetorisch und theoretisch aufwendig formulierten Bahnen stecken, wobei man Mancke sicherlich zustimmen muss, dass "Atlantic political history" die Chance biete, "a way to reassess critical developments in modern history" (398). Man wünscht, sie hätte dies getan.
Diese Hoffnung gilt auch für die Thematik "Religion in the Atlantic World", die von Kenneth Mills (433-448) bearbeitet wurde. Man wird dem Autor zustimmen müssen, dass es falsch ist, "[to categorize] religious ideas, forms and practices of peoples across the Atlantic zone [...] as imitations, copies, satellites, or subsidiaries" (433). Mit dieser Kritik rechtfertigt der Autor dann seine Konzentration auf die zahlreichen katholischen und wenigen protestantischen Missionare, die vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hinein bekannte und immer wieder besprochene synkretistische Formen oder "selective indigenous convergence[s] with Christianity" im Denken der amerikanischen Bewohner beschrieben. Abgesehen davon, dass Mills die Missionsdiarien der Herrnhuter Missionare, in denen eine Vielzahl solcher "indigenous convergence" Erlebnisse berichtet werden[9], nicht kennt, bleibt schlichte Verwunderung über einen Beitrag, der unter souveräner Ausblendung von Religiosität der europäischen Bevölkerung, der nativen Populationen und der Sklaven die Analyse von kleinen religiösen "niche polities" als Beschreibung der "Religion in the Atlantic World" anbietet.
Während Kenneth Mills das Nebensächliche zur Hauptsache erklärt, setzt David Armitage die Historiographie der Amerikanischen Revolution bis zu ihrem konsequenten Ende fort: Hatten amerikanische Historiker im späten 18. und im 19 Jahrhundert die Revolution als Geburtsstunde der amerikanischen Nation gefeiert, dann nach dem Zweiten Weltkrieg die Revolution zum zentralen Teil des "Age of Revolution" deklariert, so postuliert nun Armitage die Amerikanische Revolution zum Katalysator globaler Veränderungen: "That characteristic discovery of the Age of Revolutions was the product of the novel perspectives, Atlantic and ultimately global, opened by the American Revolution" (531-532), so lautet der letzte Satz seines Artikels (516-532). Um dies überzeugend darzustellen, fasst Armitage nach einem historiographischen Exkurs die Ereignisse, die zur Revolution führten, knapp und kompetent zusammen (519-529), zeichnet die Lehren nach, die Akteure aus der Revolution zogen und beschreibt das ferne Echo der revolutionären Ereignisse in der Welt. Dass dieses schwache Echo die globale Dimension der Amerikanischen Revolution beweisen solle, scheint eher fraglich. Dies gilt auch für Armitages These, dass die Genese neuer Staaten aus den Kolonien "the single most radical act of the American Revolution" gewesen sei (527). Denn dies war schlicht ein für Europäer, folgerichtiger Akt, da es keine Alternative für die Kolonien gab, wenn sie sich nicht Frankreich oder dem verhassten Mutterland wieder unterwerfen wollten. Ein anderer von Armitage übersehener Akt war viel radikaler und konstitutiver: § 11 der "Association of the First Continental Congress" vom 20. Oktober 1774, der mit der Bestimmung "That a Committee be chosen in every county, city, and town by those who are qualified to vote for representatives in the legislature", den revoltierenden Kolonien eine neue, die Abgeordnetenhäuser ersetzende, durch Wahlen legitimierte Institution verschaffte, die auf der Ebene der lokalen Gemeinschaften in wahrlich revolutionärer Weise die Beschlüsse des Kontinentalen und der Provinzialen Kongresse umsetzte. [10]
Dass das Echo und die Auswirkung der Amerikanischen Revolution auf wenige Orte und Ereignisse in Afrika beschränkt blieb (530), wird von Robin Law in seinem Beitrag bestätigt (595). Der Autor beschreibt ein Afrika im Übergang von der Selbständigkeit im 18. zur Unselbständigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert. Er geht dabei chronologisch vor: Größe des Sklavenhandels, Diskussion dessen geringer Bedeutung für die afrikanische Wirtschaft insgesamt und für die Küstenregionen (586-588), dann Westafrikas Rolle in der atlantischen Völkergemeinschaft. Law zeigt, dass die Adoption europäischer kultureller Werte und deren Mischung mit afrikanischen Bräuchen in den westafrikanischen Küstenorten mit hohem Sklavenhandelsaufkommen beträchtlich war (588-592). Diese Problematik prägt auch seine Diskussion der Frage nach der Identität der Westafrikaner. Im Unterschied zu David Northrup plädiert er eher für auf lokale Gemeinschaften und Orte bezogene Identitäten als für eine "collective African identity" (593). Wie stark diese durch den Islam überlagert wurden, lässt der Autor offen, betont aber, dass islamische eher als andere Herrscher dazu neigten, den Sklavenhandel mit Ungläubigen zu unterbinden (596). Im letzten Abschnitt werden afrikanische Haltungen zu europäischen Versuchen, den Sklavenhandel zu verbieten, dargestellt. Exporte von Palmöl füllten die Lücken, die durch das europäische Verbot entstanden seien. Insgesamt dokumentiert der Artikel erneut, wie stark die afrikanische herrschende Oberschicht den Sklavenhandel unterstützte, wobei die Gründe dafür in dem Artikel ebenso wie in dem früheren von David Northrup ausgespart bleiben. Beide Artikel haben noch eine weitere Lücke gemeinsam: die Diskussion der Frage, welche demographischen und wirtschaftlichen Folgen der Sklavenhandel für die afrikanischen Gemeinwesen hatten. Auch David Eltis berührt in seinem Beitrag "Africa, Slavery, and the Slave Trade, Mid-Seventeenth to Mid-Eighteenth Centuries" (271-286) diese Frage nur am Rande (280-281). Offensichtlich interessieren sich Wirtschaftshistoriker nur für Waren und behandeln Sklaven auch nur als solche; dass sie aus dörflichen Gemeinschaften und aus sozialen und familiären Zusammenhänge gerissen und dies wahrscheinlich die Wirtschaftskraft schmälerte, interessiert offensichtlich niemand.
Natürlich vermittelt die Besprechung von neun Beiträgen zum Oxford Handbook of the Atlantic World nicht die Fülle der Ergebnisse, Einsichten und Konzepte des Bandes. Das war auch nicht die Absicht des Rezensenten. Dass die Beiträge ungleichgewichtig sind, dass gut räsonnierte, sauber und kompetent geschriebene Diskussionen präzis umrissener Themen sich mit unbefriedigend argumentierten, inhaltlich problematisch konzipierten Beiträgen abwechseln, teilt der Band mit vielen ähnlichen Sammelwerken. [11] Diese Unebenheiten schmälern nicht den guten Gesamteindruck des Bandes. Schwächen und Stärken seien aber noch einmal summiert: Die Beiträge zu Migration und zum Sklavenhandel gehören zu den Stärken des Bandes ebenso wie die Artikel zum Handel und zu den Sinnen im Atlantischen Raum. Zu den Schwächen gehören die Artikel zur politischen und religiösen Geschichte des atlantischen Raumes. Ärgerlich ist, dass der Band überhaupt keine Artikel zu den afrikanischen und amerikanischen indigenen Populationen aufweist; deren kulturellen Welten bleiben unbeschrieben und unausgelotet.
Wie überzeugend präsentiert der Band ein neues Konzept der "Atlantic World"? Über die Probleme, die der biologistische Ansatz mit sich bringt, ist schon gesprochen worden ebenso wie über die Betonung der Kolonialreiche. Welche weiteren konzeptionellen Elemente einer Geschichte der Atlantischen Welt lassen sich hervorheben? Ganz sicherlich gehört zu ihnen der Schwerpunkt auf Migrationen und auf Transferprozesse - wiewohl hier der Transfer und Austausch von philosophischen, politischen und sozialen Konzepten deutlich zu kurz kommt. Überraschend gehört offensichtlich auch das Konzept von Kommunikation und Netzwerken nicht zur Vorstellung der Herausgeber von Atlantischen Welten. Am gravierendsten scheint, dass die Herausgeber die Autoren nicht dazu gedrängt haben, sich auch mit den Rückwirkungen unterschiedlicher politischer, kultureller, religiöser, wirtschaftlicher und sozialer Bewegungsabläufe in den Ursprungsländern zu befassen. Exporte entstehen nicht aus dem Nichts, um nur ein Beispiel zu nennen, sondern erfordern komplexe wirtschaftliche Prozesse, Rohprodukte, und infrastrukturelle Bedingungen bis sie am Ort anlangen, von dem sie exportiert werden. Wir lesen nichts über die Auswirkungen politischer Krisen oder wichtiger Ereignisse in Europa auf Gemeinschaften in den Amerikas und in Afrika und umgekehrt; kein Wort wird darüber verloren, wie Leute an der westafrikanischen Küste, in Latein- und Nordamerika oder im karibischen Raum die jeweilig anderen sahen, mit ihnen interagierten oder sie mit Feind- und Fremdbildern versahen und ausgrenzten; selbst in dem Beitrag von Tamar Herzog, "Identities and Processes of Identification in the Atlantic World" (480-495) sucht man vergeblich nach Fremd- und Selbstbildern oder nach einer Diskussion von "Alteritäten". Endlich: Dies ist ein Produkt angloamerikanischer Wissenschaft. Arbeiten aus Deutschland, aus den Niederlanden oder anderen Ländern (mit Ausnahme von Frankreich und Spanien) werden schlichtweg ignoriert - sie existieren nicht. Dies ist mehr als ärgerlich.
Überblickt man die Beiträge, dann entsteht eine spezifische Vorstellung von "Atlantischer Geschichte": Der Band enthält Beiträge über beginnende Kontakte und Verbindungen zwischen Staaten und Gemeinschaften aus Ländern der drei Kontinente, die den Atlantik umsäumen. Im zweiten Teil werden diese Beiträge chronologisch weitergeführt durch Artikel über den Aufbau und die Entstehung von Kolonialreichen, deren Mutterländer alle in Europa waren, aber die drei Kontinente entweder durch ihre Kolonien oder durch Handelsverbindungen verknüpfen. Die Beiträge des dritten Teils sind der Ausbildung und Konsolidierung dieser Herrschaftsbereiche durch thematisch fokussierte Beiträge gewidmet. Der vierte Teil endlich beschreibt die Auflösung der kolonialen Reichsbindungen und Reiche ebenso wie, so scheint es, das wichtigste Beziehungsnetz, welches die drei Kontinente miteinander verband, nämlich den Sklavenhandel.
Hier lassen sich die Konturen eines Konzeptes erkennen. Im Kern läuft dieses auf die Kolonialreiche bezogene, durch Kontakte zu den Staaten Afrikas ergänzte Geschichte des atlantischen Raumes hinaus. Das Kernproblem dieses Konzeptes ist es, dass die meisten Beiträge unter dem Eindruck spezifischer nationaler Werte geschrieben sind. Dies ist berechtigt, wenn man, was wir hier tun, Kolonialgeschichte als Teil einer Konzeption der Atlantischen Geschichte betrachtet. Wichtig wäre, dass als Gegengewicht zentrale Bereiche wie etwa der atlantische Handel auch aus transnationaler Perspektive beschrieben würden - einer Perspektive, in der es keinen Schmuggel und keine von einer Nation diktierten Handelsgesetze, sondern Handel nur als das freie Spiel der Kräfte im atlantischen Raum vorkommen würde. Besinnt man sich auf die Möglichkeiten zur Überwindung des Atlantiks, dann wäre diese Konzeption noch durch die Analyse der Medien (Flotte, Schiffe) zur Überwindung des maritimen Raumes einerseits, durch Netzwerke, die zu allen Lebensbereichen den Atlantik überspannten und die natürlich auch als Analysen kommunikativer Strukturen denkbar sind, zu ergänzen. Von besonderer Bedeutung in einer solchen erweiterten Konzeption müsste die Einbeziehung der Rückwirkungen von jeder Art von multi- und bilateralen Beziehungen auf die jeweiligen Ursprungsgebiete sein. Es reicht nicht aus, nur das Erlernen des Portugiesischen zu konstatieren; vielmehr muss dem immer die Frage folgen, welche Folgen dies für Status und Funktion desjenigen in seiner eigenen Kultur hatte. Diese Forderung leuchtet jedem ein, soweit sie sich auf Vorgänge innerhalb eines Kolonialreiches bezieht. Diese Forderung muss aber auch für Beziehungen zwischen Kolonialreichen gelten. Sie gilt nicht nur für direkte Konsequenzen, sondern auch für indirekte Konsequenzen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Als sich zwischen 1748 und 1755 der französische Hof und der cours de parlement gegenseitig neutralisierten und deshalb die französische Regierung handlungsunfähig war, beeinträchtigte dies nicht nur die habsburgische Außenpolitik, sondern verschaffte auch dem Gouverneur von Kanada bisher ungeahnte Möglichkeiten, seine aggressive Politik gegen die englischen Kolonien zu verwirklichen. Die Folgen - Fort Necessity und Washingtons Niederlage, Braddocks Niederlage und der Ausbruch des French and Indian War - sind wohlbekannt. [12] Die Schlüsselbegriff, die Teile eines Konzeptes der Atlantischen Geschichte sein müssen, lauten "Reziprozität", Interaktivität und Multilateralität. Zu diesen muss noch ein weiterer Begriff treten, der in dem Handbook of the Atlantic World nur für das 16. und frühe 17. Jahrhundert beachtet wurde, der des atlantischen Raumes, auf dessen Bedeutung David S. Shields hinwies. Dieser Begriff umfasst jedoch nicht nur den Atlantik, sondern auch die angrenzenden Länder, deren Größe und Weite, deren klimatischen Bedingungen, wie etwa die neueren Arbeiten zur Gründung von Jamestown zeigen, weitreichenden Einfluss auf die Entwicklung von Siedlungen und Kolonien hatten. [13]
Diese Überlegungen lassen sich systematisch zu einzelnen Bereiche zusammenfassen: Am Anfang stünde die Analyse des atlantischen Raumes selbst, seine kartographische Erfassung von den Portolanen des 15. Jahrhundert bis zu den Seekarten des 18. Jahrhunderts, die Beschreibung der Häfen und Küstenverläufe wie auch Formen des Umgangs und der infrastrukturellen Bewältigung mit räumlicher Weite zwischen und in den drei Kontinenten. Im Zentrum der politischen Analyse stünden die Kolonialreiche und Anrainerstaaten, ihrer politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Außenbeziehungen zu anderen Kolonialreichen, anderen Staaten, Nationen und Kolonien anderer Kolonialreiche. Ebenso weitgefächert gehören dazu die Binnenbeziehungen der Kolonialreiche selbst. Ein zweiter großer Bereich würde die gegenseitige Wahrnehmung der anderen Nationen, Staaten und Kolonien, Menschen und sozialen Strukturen im atlantischen Raum umfassen. Der dritte Bereich sollte die nationalen kulturellen Diskurse und Glaubenssysteme innerhalb und zwischen Kolonialreichen und zum atlantischen Raum gehörenden Nationen und Staat erforschen. Ein vierter Bereich würde die Netzwerke und kommunikativen Strukturen zwischen einzelnen Personen, Gruppen und Institutionen im atlantischen Raum untersuchen. Ein fünfter endlich würde die transnationalen Netzwerke, Kommunikationsstrukturen, Wertvorstellungen im Atlantischen Raum erfassen. Bei allen Untersuchungsfeldern wären die reziproken Auswirkungen mit in die Untersuchungen zu integrieren. Erst die konzeptuelle Gesamtschau aller dieser Elemente ließe ein überzeugendes Konzept der historischen Erforschung des Atlantischen Raumes entstehen. Der hier zu besprechende Band macht einen guten Anfang - mehr aber auch nicht.
Anmerkungen:
[1] David Northrup: Africa's Discovery of Europe, 1450-1850, 2nd ed., New York 2008.
[2] Die Parallelen reichen von der Entführung prominenter Mitglieder des "Stammes" mit dem Ziel, diesen die Sprache des europäischen Landes beizubringen und sie damit als "cultural broker" zu nutzen über die stillschweigende Annahme der europäischen Nationen, dass der "Andere" ihre Sprache lerne, nicht aber umgekehrt. Oder dass automatisch von der Überlegenheit des europäischen Staates über den indigenen Staat / Nation / "Stamm" ausgegangen wird und dass dabei das Christentum eine entscheidende Rolle spielt.
[3] Marília dos Santos Lopes : Afrika. Eine neue Welt in deutschen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992.
[4] Hermann Wellenreuther: Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts, Münster 2000, 110-121.
[5] Alden T. Vaughan: Transatlantic Encounters. American Indians in Britain, 1500-1776, Cambridge 2006.
[6] Alden T. Vaughan (ed.): Early American Indian Documents. Treaties and Laws, 1607 - 1789, 20 Bde., Washington/DC 1979 - 2004.
[7] Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie, 1700-1785, Paderborn 1997, insbes. 95-220.
[8] Claudia Schnurmann: Atlantische Welten. Engländer und Niederländer im amerikanisch-atlantischen Raum, 1648-1713, Köln 1998, 229-252.
[9] Hermann Wellenreuther / Carola Wessel (eds.):The Moravian Mission Diaries of David Zeisberger, 1772 - 1781, übersetzt von Julie T. Weber, University Park/PA 2005; vgl. auch A. G. Roeber (ed.): Ethnographies and Exchanges. Native Americans, Moravians, and Catholics in Early North America, University Park/PA 2008.
[10] Hermann Wellenreuther: Associations, The People, Committee of Observation and Inspection and the Culture of Rights, 1774 - 1776, in: Hermann Wellenreuther (ed.): The Revolution of the People. Thoughts and Documents on the Revolutionary Process in North America, 1774 - 1776, Göttingen 2006, 17-70; der Text der Association des Kontinentalkongresses, ebenda, 148-151.
[11] Squanto, ein Indianer des Patuxet Stammes, war 1614 aus New England entführt und nach Spanien gebracht worden, von wo er nach England flüchtete, dort offensichtlich die englische Sprache erlernte und dank dieser Sprachkenntnisse in den Verhandlungen zwischen den Plymouth Pilgrims und den Indianerstämmen der Region eine wichtige Rolle spielte, welches wiederum seinen Status innerhalb seiner Gesellschaft deutlich verbesserte. Neal Salisbury: Manitou and Providence. Indians, Europeans, and the Making of New England, 1500-1643, New York 1982, 107.
[12] Wellenreuther: Ausbildung und Neubildung, 241-242, 270-275.
[13] Karen Kupperman: The Jamestown Project, Cambridge/MA 2007.
[14] Bei Migrationen wäre dies etwa die Frage, welche Folgen Auswanderung auf den Ort und die Gesellschaft hatte, aus der ausgewandert wurde. An einem konkreten Beispiel untersuch diesen zumeist völlig übergangenen wichtigen Aspekt. Sabine Heerwart: Verlassene Dörfer: Auswanderungsverläufe des 19. Jahrhunderts am Beispiel der deutschen Dörfer Ürzig und Wolfshagen, Berlin 2008.
Hermann Wellenreuther