Irene Dingel / Herman J. Selderhuis (Hgg.): Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Bd. 84), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, XIII + 526 S., 43 Abb., ISBN 978-3-525-10106-3, EUR 89,95
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Das Jahr 2009 hat anlässlich des 500. Geburtstages Johannes Calvins (1509-1564) zahlreiche Veranstaltungen und Publikationen hervorgebracht. Zu Recht, ist doch die Bedeutung des Calvinismus "als gestaltende Kraft des neuzeitlichen Europa" (IX) über den engeren kirchenhistorischen Kontext hinaus unbestritten.
Da sich an Calvin bereits zu dessen Lebzeiten die Geister schieden, sind von Beginn an sehr unterschiedliche Lebensbilder des Genfer Reformators in Umlauf gebracht worden, die von hagiographischen Tendenzen bis hin zu Generalabrechnungen mit dem verhassten Feind reichen. Dieser Umstand hat zu Legendenbildungen und zu einer verzerrten Wahrnehmung der historischen Ereignisse geführt, deren Aufarbeitung in der wissenschaftlichen Forschung bis heute andauert. Hierzu leistet der von Irene Dingel, Direktorin am Institut für Europäische Geschichte in Mainz, und Hermann Selderhuis, Präsident des Internationalen Calvinkongresses, herausgegebene Tagungsband einen bedeutenden Beitrag, indem vielfältige Perspektiven der Wirkungen von Calvin und Calvinismus innerhalb der europäischen Geschichte aufgezeigt werden.
Bereits das Inhaltsverzeichnis lässt erkennen, dass die vom 25.-28. Juni 2009 in Mainz veranstaltete Tagung prominent besetzt war. Führende Calvin-Forscher aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, der Schweiz und den USA gaben Einblicke in ihr derzeitiges Arbeitsfeld, sodass zwar nicht ein umfassendes Bild von Werk und Wirkung Calvins bzw. des Calvinismus entstanden ist, wohl aber ein einzigartiger Überblick über das derzeitige Forschungsinteresse am Thema.
Um die unterschiedlichen Beiträge nach inhaltlichen Gesichtspunkten zusammenzustellen, wurde der Band in drei Abschnitte aufgeteilt: Zunächst geht es um räumlich-geographische "Wirkungen Calvins in West- und Osteuropa" (3-197), anschließend um die vielfältigen Migrationsbewegungen ("Vertreibung - Exil - Neuaufbau", 201-312) und schließlich um Kommunikationsbeziehungen und Gemeinden als kulturelle Knotenpunkte des europäischen Calvinismus ("Spiritualität und Medien. Calvinismus als geistige Kraft", 315-505).
In seinem Eröffnungsbeitrag zeichnet Hermann J. Selderhuis (Apeldoorn) unter der Überschrift "Calvinus non otiosus. Der unbewegte Beweger und seine Kinder" ein Calvinbild, das den Reformator als sesshaften Gelehrten zeigt, der seine neue Heimat Genf zur "Angriffsbasis" ausbaute, um "Soldaten in alle Welt" zu senden, "als Feldherr [jedoch] kaum noch seinen Kommandostand" verließ (7). Freilich war der geistliche Kampf, in dem Calvin sich wähnte, nicht mit weltlichen Waffen zu führen, sondern von der Kanzel aus mit Hilfe des Wortes Gottes. Geschickt wehrt Selderhuis implizit den Vorwurf eines religiösen Fundamentalismus ab, indem er in Anknüpfung an den Reformator zwar eine militärische Sprache wählt, diese jedoch mit Hilfe präziser begrifflicher Verknüpfungen von politischen Implikationen fernhält und stattdessen im zweiten Teil seines Beitrages theologische Grundgedanken Calvins entfaltet, in denen er die Wirkmächtigkeit reformierter Lehre begründet sieht.
Während Selderhuis mit Genf den Ursprungsort des Calvinismus in den Blick nimmt, folgen unterschiedlich umfangreiche Regionalstudien. Zunächst erläutert Eike Wolgast (Heidelberg), warum vormals lutherische Herrscher im Heiligen Römischen Reich zum reformierten Bekenntnis wechselten. In Fallstudien werden anschließend das Fürstentum Anhalt (Heiner Lück, Halle), die übrigen Schweizer Städte (Amy Nelson Burnett, Lincoln/USA sowie Emidio Campi, Zürich), Frankreich (Raymond A. Mentzer, Iowa/USA), die Niederlande (Mirjam van Veen, Amsterdam), Siebenbürgen (Ulrich A. Wien, Landau) und Litauen (Kęstutis Daugirdas, Mainz) in den Blick genommen, bevor Matthias Schnettger (Mainz) römisch-katholische Perspektiven auf den Calvinismus an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert aufzeigt.
Der zweite Teil des Bandes beginnt mit drei Beiträgen zu Calvin, der als gebürtiger Franzose selbst Glaubensflüchtling war. Unter biographischen Gesichtspunkten untersucht Matthieu Arnold (Straßburg) die Straßburger Exilszeit Calvins, Barbara Pitkin (Stanford/USA) und Max Engammare (Genf) widmen sich hingegen Calvins Schrifttum, indem sie Motive der Exilsthematik in Calvins Jesajakommentar bzw. in seinen Predigten in den Blick nehmen.
Bezogen auf die nachfolgenden Generationen setzen sich Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg) und Christoph Strohm (Heidelberg) mit dem Phänomen der Migration reformierter Theologen und Juristen auseinander, während Judith Becker und Irene Dingel (beide Mainz) reformierte Flüchtlingsgemeinden hinsichtlich ihrer Organisation bzw., in Form einer Fallstudie zu Frankfurt am Main, ihrer Stellung innerhalb einer freien Reichsstadt untersuchen.
Der dritte Teil des Buches vereint 6 Beiträge zu den Themen Gebet (Elsie McKee, Princeton/USA), Martyrium (Peter Opitz, Zürich, und Mark Greengrass/Thomas S. Freemann, beide Sheffield), freier Wille (Athina Lexutt, Gießen), Widerstandsrecht (Volker Leppin, Tübingen) und Bildung (Stefan Ehrenpreis, München) sowie zwei kunsthistorische Beiträge von Matthias Müller (Mainz) bzw. Ruth Slenczka (Berlin) und einen Beitrag zu modernen Editionen des dogmatischen Hauptwerks Institution de la Religion Chrétienne von Olivier Millet (Paris).
Insgesamt ergibt sich ein sehr breites Themenspektrum, d.h. die Stärke des Bandes liegt nicht darin, dass die Beiträge aufeinander aufbauen oder einer inhaltlichen Systematik folgen. Positiv hervorzuheben ist die Interdisziplinarität der Autorenschaft: Allgemein- und Kunsthistoriker, Juristen und Theologen haben je ihre eigenen Perspektiven eingebracht, die sich im Kontext des Tagungsthemas gut ergänzen. Der Anspruch, eine europäische Perspektive einzunehmen, ist voll erfüllt, gerade die grenzüberschreitenden Wirkungen des Calvinismus werden intensiv in den Blick genommen. Erfreulich ist auch, dass es in Abgrenzung zu früheren Tendenzen in der Calvin/Calvinismus-Forschung derzeit scheinbar einen Konsens in der wissenschaftlichen Zugriffsweise gibt. Insbesondere das bis in die 1980er-Jahre hinein vorherrschende Bestreben, Calvins Schüler an ihrem Lehrer zu messen, findet sich in dem vorliegenden Tagungsband nicht mehr. Es ist mittlerweile eine selbstverständliche Einsicht geworden, dass im reformierten Protestantismus von Beginn an eine wesentlich größere Pluralität vorhanden war als im Luthertum und dass es nicht als Abfall von den Ideen Calvins zu werten ist, wenn seine Schüler aufgrund veränderter Frontstellungen andere Wege beschritten als der Reformator selbst.
Ebenfalls in Anlehnung an die neuere Forschung werden sehr unterschiedliche Quellen zur Beschreibung des Calvinismus herangezogen und somit der frühere verengte theologiegeschichtliche Zugang im Rahmen kirchenhistorischer Forschung aufgesprengt. Damit ist die theologische Calvin-Forschung für andere Fachdisziplinen anschlussfähig geworden, was nicht zuletzt durch den vorliegenden Band zum Ausdruck kommt.
Tobias Sarx