Elisabeth Tietmeyer / Claudia Hirschberger / Karoline Noack u.a. (Hgg.): Die Sprache der Dinge. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur (= Schriftenreihe Museum Europäischer Kulturen; Bd. 5), Münster: Waxmann 2010, 220 S., ISBN 978-3-8309-2333-6, EUR 29,90
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Der im Auftrag der Gesellschaft für Ethnographie, einer seit 1990 bestehenden Plattform der ethnologischen Fachdisziplinen entstandene Sammelband vereinigt achtzehn Aufsätze, die allesamt wohltuend kurz sind - kaum ein Beitrag umfasst mehr als zehn Seiten - und ohne allzu beschwerlichen Fußnotenapparat auftreten. Die Rahmenerzählung in den einleitenden Texten zu den verschiedenen Themenblöcken ist theoretisch ein wenig dünn ausgefallen. Zwischenüberschriften, wie "Bedeutungen und Konstrukte", "Authentizität und Kontextualisierung", "Symbolische Praktiken und Kulturtechniken" etc. jonglieren mit gut klingenden Schlagworten, ohne dass sich aber bei der Lektüre tatsächlich eine inhaltliche Stringenz erschließt. Auch der Titel Sprache der Dinge muss jeden konsequenten Dingforscher zunächst misstrauisch stimmen: Stehen hier die Dinge einmal mehr unter der Kuratel der Sprache, erscheinen Dinge wieder nur als bloße Verlängerung des Textes?
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen - wie der europäischen und außereuropäischen Ethnologie, der Kunst- und Kulturwissenschaften, der Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie der Archäologie entfalten eine reichhaltige Palette unterschiedlichster Themen, in denen Dinge im Mittelpunkt stehen, wie die Himmelsscheibe von Nebra zum Beispiel, deren abenteuerliche Geschichte zwischen Forschung und Kommerzialisierung erzählt wird, oder der Maya-Stuckkopf aus dem Ethnologischen Museum in Berlin, der sich als aussagekräftige Fälschung erweist. Die "Creative City" in Dublin wird als Beispiel einer Stadtplanung vorgestellt, in der Architektur und Materialität eine Symbiose eingehen. Ein Beitrag erfindet mit "Kitra" ein neues Akronym, womit Kindertransportmittel, wie Kinderwagen und Tragetuch, gemeint sind. Auch das virtuelle Ding wird ernst genommen: In einem Beitrag über Museologie und Informationstheorie wird unter Berufung auf Michel Bucklands "Information as Thing" deutlich, dass auch die Digitalisierung nicht ohne den Dingbegriff auskommt. Ein anderer Aufsatz behandelt urbanen digitalen Lifestyle der Zukunft, denn auch die Kleidung kann als textile Bedienungsoberfläche dienen, mit der man online gehen kann, ohne - außer der technologisch aufgerüsteten Jacke - ein zusätzliches Gerät tragen zu müssen.
Vier Aufsätze seien hier - pars pro toto - detaillierter vorgestellt. Hans Peter Hahn stellt sich die für Fachfremde überraschende Frage, warum in der Ethnologie so viel Unsicherheit im Umgang mit materieller Kultur herrscht. Anstatt die Dinge in ihrer eigenen Logik zu erfassen, würden in der Regel zu schnell und selbstsicher semantische Zuschreibungen getroffen. Untersuchungsgegenstand von Hahns disziplinärer Selbstkritik ist das Wohnzimmer, das in den 1970er Jahren von der Soziologie und Kulturanthropologie als aussagekräftiger Bedeutungsträger entdeckt wurde. Pierre Bourdieu und Mary Douglas schrieben dazu inzwischen klassische gewordene Texte, in denen aber nicht die Dinge selbst, sondern deren Semantiken im Mittelpunkt stehen. Eine Annäherung an die moderne Kunst könnte nach Hahn den disziplinären Horizont weiten. So bestimmt kein vorausgesetzter Sinn die Arbeit des Konzept- und Performance-Künstlers Daniel Spoerri in seinen "Topographien des Zufalls" oder "Tableaux pièges". Zufällig versammelte Objekte auf einem Schreibtisch werden zur Kunst erklärt und ins Museum gestellt, wobei die unmittelbare Nähe der Dinge, mit der der Betrachter konfrontiert wird, zum Verlust der Eindeutigkeit im Wissen über sie führt. Was bleibt, ist die Verstrickung von Dingen mit Geschichten. Anstatt nach einer "Sprache der Dinge" zu suchen, sollte der Ethnologe in "Dialoge mit Dingen" treten.
Interessant sind vor allem diejenigen Beiträge, die Hahns Plädoyer für einen Neujustierung der Ethnologie konstruktiv aufgreifen, denen es also gelingt, über menschliche Zuschreibungen hinaus die Eigenmacht der Dinge in den Blick zu bekommen. Ein Ort, wo Mensch-Ding-Beziehungen in einem neuen Licht gesehen werden können, sind Weltausstellungen, die Frederike Felcht am Beispiel der Pariser Expo von 1867 in den Blick nimmt, und zwar durch die Brille des Andersen-Märchens "Dryaden". Die Handlungsmacht der Dingwelt, die Bruno Latour eindringlich beschrieben hat, spiegelt sich in dieser realistischen Märchenwelt, werden doch dort neue Ding-Mensch-Komplexe als Produkte menschlicher Intentionalität zelebriert, die frei von Zauberei und wunderbar zugleich sind. Die Organisation der Menschenmassen, die auf den neuen Erfahrungswerten der Beschleunigung, Entwurzelung und gesteigerten Vergänglichkeit fußen, hebt allmählich deren Subjektstatus auf. Wenn es heißt: "Die Straßenbahnen und Omnibusse sind gestopft und gepfropft und mit Menschen garniert", sind die Menschen schon längst mit den Dingen verschmolzen.
Die "Initiativentfaltung der Dinge" steht auch im Mittelpunkt des Beitrages von Lars Frers. So wie die Menschen nicht nur einen Körper haben, sondern notwendigerweise auch Leib sind, so sind die Dinge für uns nicht etwas absolut von uns Getrenntes. Bei Mensch und Ding müsse man von einer ständigen Interaktion ausgehen, wobei Frers vor allem Alltagssituationen interessieren. Fahrscheinautomaten und automatische Drehtüren sind seine Exempel, die insbesondere dann, wenn sie nicht mehr funktionieren, ihre irritierende Widerständigkeit an den Tag legen, die durch keine Semantik aufzuheben ist. Indem sie den Erwartungen widerstehen, fordern sie beim User ein materielles Umdenken heraus, das über das bloße Bedienen der Dinge hinausgeht.
Aber auch Autoren, die nicht frei von der dem Diktum "Sprache der Dinge" innewohnenden Zuschreibungsrhetorik sind, die also die Ethnologie im Sinne einer Zeichentheorie betreiben, steuern interessante Beiträge bei. Dass Kopftücher nichts mit religiösem Traditionalismus und weiblicher Unterwürfigkeit zu tun haben müssen, zeigt Gudrun Grauenson am Beispiel des "Gele", einem Kopftuch der Yoruba-Frauen in Nigeria. In den 1920er Jahren, in den unruhigen Zeiten der antikolonialen Protestbewegungen und der aufkeimenden Unabhängigkeitsbestrebungen begannen diese Frauen, ihrem ursprünglich schlichten Kopftuch "Gele" eine elaborierte, skulpturale Form zu geben, die heute in aller Welt als selbstbewusstes Symbol weiblich-afrikanischer Herkunft getragen wird. Ganz anders als das Kopftuch der deutschen Trümmerfrauen in der Nachkriegszeit sitzt der "Gele" quasi wie eine Krone auf dem Kopf. Durch seine voluminöse Gestaltung verlangt es zudem kontrollierte Bewegungen und eine ausbalancierte Kopfhaltung, wodurch moderne afrikanische Frauen ihre würdevoll schreitenden, Wasser tragenden Mütter gestisch zitieren. An deren ökonomisch selbstständigen und unabhängigen Status soll angeknüpft werden, und zwar in einer Zeit, als die berufliche Eigenständigkeit der Frauen durch die patriarchalischen Lebensmuster der Kolonialherren immer mehr eingeschränkt wurde.
Insgesamt wird der Aufsatzband dem Selbstverständnis einer Wissenschaft, die sich unter einer Vielfalt von Denominationen, wie Kulturanthropologie, Volkskunde, Völkerkunde, (Europäische) Ethnologie, vor allem als empirische Kulturwissenschaft versteht, voll gerecht.
Stefan Laube