Wolfgang Cilleßen / Rolf Reichardt (Hgg.): Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789 - 1889, Hildesheim: Olms 2010, XX + 504 S., 324 z.T. farb. Abb., ISBN 978-3-487-14492-4, EUR 74,00
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Rolf Reichardt (Hg.): Lexikon der Revolutions-Ikonographie in der europäischen Druckgraphik (1789-1889), Münster: Rhema Verlag 2017
Rolf Reichardt / Hubertus Kohle: Visualizing the Revolution: Politics and Pictorial Arts in Late Eighteenth-Century France, London: Reaktion Books 2008
Als einer der Gründe für die Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit gilt der Buchdruck. Mit ihm wurden Schriften reproduzierbarer - aber er führte auch dazu, dass seit dem 16. Jahrhundert täglich immer mehr Bilder auf die Menschen einströmten: Flugblätter, Flugschriften, Heiligenbildchen, Kalender, Landkarten, Kunstgrafik, Karikaturen oder schließlich die Fotografie - der Weg in die Gegenwart scheint gesäumt von etwas, das von Historikern wie Kunstwissenschaftlern unter dem Sammelbegriff "Bildpublizistik" erfasst und erforscht wird.
In diesem äußerst diffusen, da genuin interdisziplinären Forschungsfeld will nun eine Publikation dezidiert Revolutionsmetaphern in Bildern und damit eine Art "kollektives Bildgedächtnis" im Europa des Revolutionszeitalters untersuchen. Dieses Anliegen ist in Deutschland ziemlich neu und besonders im Teilprojekt "Revolutionserinnerung in der europäischen Bildpublizistik" des Sonderforschungsbereiches "Erinnerungskulturen" angesiedelt, der nun jahrelang an der Justus-Liebig-Universität Gießen gefördert wurde und aus dessen Kontext der Band stammt. Es verknüpft nicht nur in den letzten zwei Jahrzehnten aufgekommene Teilbereiche der Geschichtswissenschaft - die der Visual History und der Erinnerungsforschung - sondern bezieht darüber hinaus auch andere Disziplinen wie die Germanistik, Medienwissenschaft und Kunstgeschichte mit ein.
Noch seltener als gewagte interdisziplinäre Vorhaben ist es, dass ein Buch drei Titel hat. Das Vorliegende hat einen Titel drei Mal, denn es heißt: "Révolution et contre-révolution dans la gravure en Europe de 1789 à 1889, Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789-1889, Revolution and Counter-Revolution in European Prints from 1789 to 1889". Damit ist kaum noch Platz auf dem Umschlag, sodass die Abbildung - ein schlagender Schreiber, genauer gesagt ein Ausschnitt der lithografischen Karikatur "Ein Placat-Kampf" aus dem Berlin um 1848 - ganz an den Rand gedrückt und auf das eigentlich Interessante an Buchtiteln verzichtet wird - einen möglicherweise thesenstarken Untertitel nämlich.
Durch den Titel suggeriert der Band, ein grundlegendes und mehrsprachiges Handbuch zu sein. Dem allerdings hält die Lektüre nicht stand: Es handelt sich vielmehr um ein Sammelsurium verschiedenster - und verschiedensprachiger - Einzelaufsätze: Die Einleitung ist, wie die meisten Beiträge, nur in Deutsch gehalten, manche Essays sind in Englisch, einige in Französisch. Ihnen allen gemein ist, dass sie irgendetwas mit Bildpublizistik und Revolutionszeitalter zu tun haben, aber begriffsgeschichtlich schwergewichtige Wörter wie Metapher, Revolution, Satire, kollektives Gedächtnis oder gar Propaganda nicht analytisch scharf oder in ihrer Definitionslinie durch entsprechende Fußnoten nachvollziehbar, sondern eher recht allgemein und je nach Beitrag unterschiedlich konnotiert verwenden. Somit liegt das Spannende des Bandes eher - wie bei so vielen Publikationen - in speziellen, stets hochwertig bebilderten Details als denn im theoretischen Zugang oder in einem Epochenüberblick über Genese und Verwandlungen von Revolutionsmetaphern in der Bildpublizistik eines ganzen Kontinents zwischen dem Revolutionsjahr 1789 und dem nicht ganz nachvollziehbar gesetzten Endpunkt genau 100 Jahre später.
Positiv gewendet bedeutet das: Interessant ist das vorliegende Buch vor allem als bibliografisches Instrument. Das Spektrum der Beiträge, allesamt verschriftlichte Konferenzbeiträge aus den Jahren 2005 und 2006, ist beeindruckend divers und erstreckt sich von dezidiert kunsthistorischen Themen wie "La gravure française à l'épreuve du modèle anglais: traditions et revolutions graphiques à la fin du 18e siècle" des Konservators einer kanadischen Galerie, Stéphane Roy bis zu einem Beitrag der arrivierten Münchener Kommunikationshistorikerin Ursula E. Koch, die Zeit ihres Forscherlebens besonders die Bildsatire im ausgehenden 19. Jahrhundert untersuchte und hier mit ihren Gedanken zum Thema "Von der 'März-Revolution' zur russischen Revolution. Ereigniskarikatur und französisches Bildzitat in Münchner und Berliner Satire-Journalen" vertreten ist.
Grob gliedern sich die 20 Beiträge in vier Kapitel: Unter dem Stichwort "Bilderhandel und Bildpolemik im Zeichen der Französischen Revolution" untersucht etwa Tim Clayton in kleinteiligen Beispielen die Handelsbedingungen für britische Karikaturen auf dem Kontinent und kommt zu dem Schluss, dass diese nur elitären Kreise zugänglich und verständlich gewesen seien, während Michael Diers in einem betont gewichtig und abstrakt formulierten Beitrag das "Ende der Kunst und [den] Anfang des Bildes" um 1800 proklamiert und dabei berühmte Aspekte wie Marais, Heine, Hegel und schließlich Goya heranzieht. Nah an der Leitfrage des Bandes sind hingegen zwei Aufsätze des einen Herausgebers Rolf Reichardt, der einerseits den "Bedeutungswandel eines Revolutionsmotivs" anhand der "Tête coupées" und andererseits, zusammen mit Christine Vogel, die "bildliche Revolutionserinnerung in französischen und deutschen Volkskalendern" zwischen 1789 und 1849 untersucht. Die Verfasser betonen darin schlüssig zum einen die Vormachtstellung französischer Bildautoren bei der Entwicklung von einschlägigen Revolutionsmotiven wie zum anderen die transnationale Verflechtungsgeschichte von Karikaturen bzw. Motiven im Wechselspiel zwischen Autor und Rezipient.
Ein zweiter Teilbereich versucht Aufsätze zusammenzufassen, die sich nach der Zeit der Französischen Revolution selbst sodann mit "Politischen Ambivalenzen unter Napoleon" befassen. Auch hier heben die Beiträge eine fortlaufende Internationalisierung und Europäisierung themenbezogener Bildmedien hervor - etwa wenn Christian Döring anhand der in Weimar vertriebenen Zeitschrift "London und Paris" herausarbeitet, wie französische und englische Karikaturen für eine in Deutschland erscheinende Zeitschrift neu kompiliert wurden.
In einem dritten Teil werden die Beiträge versammelt, die sich mit verschiedenen Zeitschriften und Akteuren aus der Zeit des Vormärz beschäftigen. Hier ist das Spektrum wiederum recht breit gestreut und wirft eher Schlaglichter auf einzelne Orte Europas - sei es zur Geschichte "Popular Prints in the 'Risorgimento'" von Alberto Milano oder zur "République universelle démocratique et sociale" im Werk einer einzelnen, belgischen Zeichnerin namens Marie-Cécile Goldsmid (Raimund Rütten).
Doch so abwegig die Auswahl der Orte und Akteure manchmal anmuten mag, sie zeigen für die Zeit des Vormärz zusammengenommen deutlich, was die Vormärz-Forschung der Historiker bereits seit längerem betont: dass die Erinnerung an die Revolution nämlich nicht abklang, sondern im Gegenteil europaweit immer wieder aufflammte.
Schließlich wenden sich vier letzte Beiträge der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Hier hätte man sich ein stärkeres Nachdenken über die europaweite Entstehung und Institutionalisierung von Satirezeitschriften und damit über Bilder als dezidiert journalistische Darstellungsform gewünscht, da auch die mediengeschichtliche Forschung dies oft nur streift. Es ist also kein Wunder, dass für diese Zeit keiner der Forscher mehr Kalender oder Flugblätter als Quellen heranzieht, sondern, dass alle mit Satiremagazinen zu arbeiten beginnen - und so erneut differenziert und für unterschiedliche Länder beleuchten, wie sich ähnliche Motive oder ikonenhafte Farbgebung streuten.
Abschließend ist festzuhalten, dass der Band keineswegs den Handbuchcharakter besitzt, den er in Aufmachung und Klappentext vortäuscht. Es handelt sich vielmehr um ein facettenreiches Mosaik, das von einer systematischen Untersuchung von Revolutionsmetaphern weit entfernt ist. Das zu leisten ist zugegebenermaßen auch beinahe unmöglich, wenngleich die historische Bild- und Satireforschung weiter ist, als es die Herausgeber eingangs äußerst pessimistisch behaupten, wenn sie schreiben, dass man über ein kollektives Bildgedächtnis bzw. die Wirkung von Bildern nur wenig wisse, weil es sich um ein "weithin brachliegendes Feld zwischen den Wissenschaftsdisziplinen handle" (X). Dem ist glücklicherweise nicht zuzustimmen - nicht zuletzt dank des Sonderforschungsbereichs der Universität Gießen selbst, aber auch dank zahlreicher bereits vor über einer Dekade erschienener Beiträge wie beispielsweise die Bücher des französischen Historikers Christian Delporte, der merkwürdigerweise nicht ein Mal zitiert wird. Auch hätte man sich, wenn man den Titel schon dreisprachig fasst, die Mühe machen sollen, Abstracts in englischer Sprache einzufügen. Dennoch zeichnet der Band ein sehr detailreiches Bild und betont immer wieder das Wechselspiel zwischen Internationalisierung von Kunstmarkt, Journalismus und damit Ikonografien einerseits und der Verfestigung nationaler Klischees in der Bildsprache andererseits.
Louisa Reichstetter