Andreas Zellhuber / Tim B. Peters (Bearb.): Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1972 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 15/I), Düsseldorf: Droste 2011, CXXII + 642 S., eine CD-ROM, ISBN 978-3-7700-5307-0, EUR 180,00
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Helge Heidemeyer (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1953-1957, Düsseldorf: Droste 2003
Michael Weigl: Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden: NOMOS 2013
Andreas Kießling: Die CSU. Machterhaltung und Machterneuerung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004
Kay Müller: Schwierige Machtverhältnisse. Die CSU nach Strauß, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004
Jaromír Balcar / Thomas Schlemmer (Hgg.): An der Spitze der CSU. Die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union 1946 bis 1955, München: Oldenbourg 2007
Die CSU ist in der deutschen Parteienlandschaft eine "singuläre Erscheinung" (XI), wie der Augsburger Historiker Andreas Zellhuber gleich zu Beginn seiner Einleitung feststellt. Obwohl nur bayerische Regionalpartei, gelang es ihr seit Gründung der Bundesrepublik, immer wieder Regierungsverantwortung in Bonn bzw. später in Berlin zu übernehmen und damit die deutsche Politik aktiv mitzugestalten. Dabei bildeten die Abgeordneten der CSU nie eine eigene Bundestagsfraktion, sondern gingen als Landesgruppe eine Fraktionsgemeinschaft mit der CDU ein. Die Autonomie und die Sonderrechte, die sie sich im Laufe der Jahre erkämpfen konnte, ließen die Landesgruppe freilich beinahe zu einer Fraktion in der Fraktion werden.
Veröffentlichte Quellen zur Geschichte der CSU sind - zumal was die Bundespolitik angeht - dünn gesät. Nicht zuletzt deshalb blieb die Rolle der bayerischen Unionspartei in Bonn von der historischen Forschung oft unbeachtet. Mit der 2011 erschienenen Edition der Sitzungsprotokolle der Landesgruppe dürfte sich dies ändern, liegt damit doch ein zentraler Bestand vor, der es ermöglicht, die Bundespolitik der CSU von den Anfängen der Ära Adenauer bis in die ersten Jahre der sozialliberalen Koalition zu verfolgen.
Den Dokumenten voran geht eine umfangreiche Einleitung von Andreas Zellhuber, der zusammen mit Tim B. Peters auch für die Kommentierung verantwortlich zeichnet. Zellhuber stellt den Forschungsstand dar, behandelt aktuelle Fragestellungen, gibt Auskunft über die Herkunft der CSU-Bundestagsabgeordneten, geht auf organisatorische Sachverhalte ein und informiert über die inhaltliche Arbeit der Landesgruppe. Dabei stützt er sich auf neuere Studien wie die von Thomas Schlemmer sowie auf ältere - jedoch nicht überholte - Arbeiten, die etwa Alf Mintzel vorgelegt hat. Die Leitfragen, die Zellhuber herausarbeitet und an denen sich seine Einleitung orientiert, zielen auf verwaltungstechnische Vorgänge, politische Inhalte und innerparteiliche Konflikte.
Hervorzuheben ist Zellhubers Strukturanalyse der CSU-Landesgruppe. Wahlergebnisse und personelle Wechsel kommen in diesem Zusammenhang ebenso zur Sprache wie die Merkmale Geschlechterverhältnis, Konfession oder Ausbildung und Beruf. So erhält der Leser einen profunden prosopographischen Überblick, der jedoch in manchen Punkten sehr ausführlich gerät. Überdies untersucht der Autor die hierarchische Position der einzelnen Abgeordneten. Franz Josef Strauß erhält wegen seiner "bemerkenswerten Rolle", die er "über Jahrzehnte hinweg in der CSU-Landesgruppe spielte" (LI), einen eigenen Abschnitt.
Es folgt ein Kapitel zur Organisationsstruktur der Landesgruppe, wobei die Genesis der Fraktionsgemeinschaft und die Spannungen zwischen CSU und CDU eine besondere Rolle spielen. Weiter beleuchtet Zellhuber interne Vorgehensweisen und Abläufe wie die Bildung, Finanzierung und Gliederung von Arbeitskreisen. Was die politischen Inhalte angeht, so legt der Autor besonderes Gewicht auf das Themenfeld Föderalismus und vergleicht die Arbeitsweise der Landesgruppe während der Regierungszeit von 1949 bis 1969 und in den ersten Jahren der Opposition nach dem Machtverlust. Charakteristisch erscheint ihm vor allem die Geschlossenheit der Landesgruppe als Voraussetzung für ihr erfolgreiches Auftreten im Bundestag und in der Unionsfraktion.
Die Buchpublikation umfasst nur eine Auswahl der Sitzungsprotokolle; vollständig finden sie sich auf der beigefügten CD-ROM, die sich gut handhaben lässt und die Suche nach bestimmten Inhalten sehr erleichtert. Von den übrigen Protokollen finden sich im Buch die Tagesordnungen und zusammenfassende Regesten, die für die Erschließung der Protokolle äußerst hilfreich sind. Allerdings ist der Bestand nicht lückenlos überliefert, da die Protokolle zwischen Oktober 1966 und Februar 1969 nicht ausfindig gemacht werden konnten. Es muss von einem "dauerhaften Verlust" aufgrund "einer Unachtsamkeit" (XCII) ausgegangen werden.
Die Sitzungen begannen meist mit dem einleitenden Referat eines hochrangigen Landesgruppen-Mitglieds zu einem aktuellen Thema. Anschließend folgte eine teils intensiv geführte Diskussion. So kommentierte Franz Josef Strauß beispielsweise das nicht immer einfache Verhältnis zwischen der CSU-Landtagsfraktion und der Landesgruppe mit den Worten: "in Bonn haben wir bisher [...] keine Zeit gehabt über München zu schimpfen, aber das wird [...] nachgeholt." (144)
Zu den wichtigsten Überzeugungen der Landesgruppe wie der gesamten CSU gehörte stets das Föderalismusprinzip. Während in Bayern die CSU-Abgeordneten in Bonn oft als Speerspitze zur Durchsetzung weiß-blauer Interessen galten, dachte man in der Bundeshauptstadt differenzierter. Dort erkannte man bestimmte Entwicklungen eher als in München. So entwickelte sich eine Bonner und eine Münchner Sichtweise auf politische Vorgänge, was wiederholt zu Reibereien führte. Franz Josef Strauß ließ daran keinen Zweifel, als er einmal davor warnte, "Sensationen der bayerischen Hintertreppenpolitik" vor "die großen politischen Zusammenhänge" zu stellen (LXVIII).
Hervorzuheben ist schließlich noch der unionsinterne Konflikt um die Ostverträge der sozialliberalen Koalition 1972. Die Enthaltung der Unionsfraktion - ein Kompromiss zwischen der Landesgruppe und den CDU-Parlamentariern, die den Verträgen mehrheitlich zugeneigt waren - geht auf die entschlossene Gegnerschaft der Landesgruppe zurück.
Die Protokolle selbst variieren, je nach Verfasser, stark in ihrer Ausführlichkeit; vor allem die Wort- und Verlaufsprotokolle sind oft spannend zu lesen. Zwischen diesen ausführlichen Mitschriften und einfachen Stichwort- und Ergebnisprotokollen existieren vielerlei Mischformen, welche häufig eher trocken anmuten. Die Protokolle sind durch Anlagen wie Redemanuskripte ergänzt, sorgfältig kommentiert sowie durch zahlreiche Querverweise erschlossen.
Daneben enthält die Edition ein ausführliches Personen- und Sachregister. Ersteres umfasst neben einer Auflistung aller im Text und in den Dokumenten erwähnten Personen zusätzlich ihre Berufs- bzw. Amtsbezeichnungen. Mitglieder der Landesgruppe sind gesondert gekennzeichnet und somit leichter auffindbar. Das Sachregister enthält sorgfältig ausgewählte Schlagwörter mit Querverweisen, die einen raschen und differenzierten Zugriff ermöglichen. Damit liegt eine erstrangige Quellenpublikation vor, die zwar nicht zu einer grundlegenden Neubewertung der parlamentarischen Arbeit der CSU in Bonn führen wird, aber einen wichtigen Beitrag zur Parteien- und Politikgeschichte der Bundesrepublik leistet.
Maximilian Hagn