Dirk Mellies: Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 201), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 380 S., 14 Diagramme, 7 Tabellen, ISBN 978-3-525-37023-0, EUR 59,95
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Ein zugegeben etwas umständlicher, dafür gehaltreicher Arbeitstitel für die Dissertation aus Greifswald hätte lauten können: 'Die Hebung des Schulwesens', 'Der Ausbau der Infrastruktur', 'Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen' von 1815 bis 1890 als ausgewählte Aspekte einer Modernisierung im Regierungsbezirk Stettin vor dem Hintergrund der in der Forschung diskutierten Problemkreise von zeitgleicher Vielfalt der Modernisierung, partieller und defensiver Modernisierung und unter Berücksichtigung der vielfältigen Modernisierungs-Träger und -Verhinderer mit einem kurzen, vergleichenden Ausblick auf andere Provinzen Preußens.
Die drei Aspekte des Arbeitstitels - gleichzeitig die Hauptkapitelüberschriften - sind die einzigen in der Arbeit untersuchten Teilbereiche der Modernisierung in Stettin, dem wichtigsten der drei Regierungsbezirke Pommerns. Sie ist bekanntlich facettenreicher. Mit "Hebung", "Entfaltung" und "Ausbau", mit diesen bewusst beschreibend gehaltenen Ausdrücken umschifft der Verfasser geschickt die ideologisch-normativen Implikationen im Begriff der "Modernisierung". Denn was modern ist und was Modernisierung bedeutet, dazu gibt es jenseits von fortschrittsliberalen Grundeinstellungen verschiedene Auffassungen. Es zeichnet das hohe Theoriebewusstsein, bzw. Theorie-Defizit-Bewusstsein dieser Arbeit aus, dass sich u.a. auch Ausführungen über Fukuyama in diesem durch und durch archivaliengesättigten Werk finden. Fukuyama tut nicht viel zur Sache. Die Ausführungen indes sagen etwas über das Reflexionsniveau aus.
Modernisierungs-Träger und -Verhinderer sind zum einen staatliche Stellen, die Regierung in Berlin, mehr noch der Regierungsbezirkspräsident, dann die Verwaltungsorgane auf Kreisebene, zum anderen Kommunen, Städte, arme und weniger arme Landgemeinden, Rittergutsbesitzer und die Geistlichkeit. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass es auch in Pommern zu wichtigen Modernisierungsschritten kommt, allerdings zu einer mit Defiziten. Der Verfasser stellt sich der Herausforderung, das höchst komplexe Zusammenwirken unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, politischer Entscheidungsträger, dann aber auch geographischer und demographischer Faktoren im Detail zu analysieren. Sich dies zur Aufgabe gemacht und diese auch erfolgreich gelöst zu haben, das ist das große Hauptverdienst der Arbeit. Als ein Ergebnis muss das allseits bekannte Vorurteil des schon immer rückständigen Pommern mit seiner ebenso dickschädeligen wie königstreuen Bauernbevölkerung in vielen Aspekten revidiert werden.
"Hebung des Schulwesens": Hier steht der Regierungspräsident an der Spitze, aber auch - ein wenig überraschend - weite Teile der Geistlichkeit. Weniger die besagte Dickschädeligkeit der Landbevölkerung verhindert eine durchgreifendere Verbesserung des Schulwesens, als vielmehr schlicht die Armut der Landgemeinden, die sich weder bessere Schulen noch besser bezahlte Lehrer leisten können. Ähnliches zeigt sich auch beim "Ausbau der Infrastruktur", d.h. beim Ausbau der Eisenbahnlinien und mehr noch der Chausseen in diesem so weiten und relativ bevölkerungsarmen Land. Dazu kommen noch genuine Störfaktoren wie die Eigeninteressen von Rittergutsbesitzern, die ihre Güter auch über kostspielige Umwege an das Straßennetz anschließen wollen. Gleiches gilt für die vielen kleinen Städte. Denn außer der Großstadt Stettin gibt es mit wenigen Ausnahmen nur ziemlich gleich (un)-bedeutende Landstädte. Subzentren als Verdichtungspunkte für eine Modernisierung bilden sich nicht so recht aus. Die Mittel sind überall begrenzt. Alles streitet sich. Der Ausbau der Infrastruktur kommt nur schwer voran.
Unter "Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen" fällt insbesondere die Entwicklung von Interessenorganisationen, allgemein von Vereinen (dazu zählen auch kulturelle und religiöse Vereine) und des Zeitungswesens. Impulsgeber in vieler Hinsicht sind auch hier wieder staatliche Stellen, z.B. mit ihren Amtsblättern. Konservative Kreise formieren sich dabei besonders stark und erfolgreich in Interessenvereinen, um Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können in einer Zeit, die auch in Pommern zunehmend von konkurrierender Interessenvielfalt bestimmt ist.
Das Ergebnis: In weiten Teilen Pommerns kommt es allenfalls zu einer - bislang in der Forschung so noch nicht herausgestellten - partiellen Modernisierung. Pommern ähnelt in dieser Hinsicht mehr den anderen östlichen als den westlichen Provinzen Preußens. Dies auch, weil das bisweilen als treueste Provinz Preußens angesehene Pommern sich keiner Förderung von Berlin erfreuen konnte, die dieser Wertschätzung entsprochen hätte. Ausnahme ist die Groß- und Hafenstadt Stettin, in der alle Modernisierungsprozesse früher und intensiver erfolgen.
Die Arbeit ist ungemein facettenreich. Dazu trägt bei, dass der Verfasser viele Archive, so das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das Landesarchiv Greifswald, aber für die Arbeit mit Abstand am wichtigsten: das Archivum Państwowne Szczecin (Stettin) hat auswerten können. Vor 1989/90 waren solche Arbeiten einfach nicht möglich. Jetzt sind sie es und nicht zuletzt und sehr erfreulich, weil der Verfasser intensive Unterstützung durch polnische Archivare erfahren hat. Darüber hinaus bezieht die Arbeit noch eine Vielzahl pommerscher Zeitschriften und Periodika mit ein. Dies alles zu bewältigen, das Material nicht bloß auszubreiten, sondern gedankengeleitet, übersichtlich und gut lesbar durchzustrukturieren, muss ungemein zeitaufwändig gewesen sein. Damit ist die Arbeit in erster Linie ein wertvoller Baustein zur Erforschung der pommerschen Landesgeschichte. Abgesehen von älterer, immer wieder zitierter Literatur gibt es nur wenige neuere Untersuchungen, was auch mit dem besonderen politischen Schicksal Pommerns zu tun hat. Die Defizite sind riesig. Auch das stellt der Verfasser in einem Ausblick heraus, in dem er einen kurzen Überblick über den Stand der bisherigen Pommernforschung gibt. Über pommersche Belange hinaus ist die Arbeit ein gelungenes Beispiel, wie differenziert man Modernisierungsprozesse untersuchen kann. Es ist zu wünschen, dass sie ein Wegweiser für viele andere Arbeiten wird.
Fazit: Eine an den Paradigmen der Historischen Sozialwissenschaften theoriegeleitete, überaus gründliche, quellenfundierte Arbeit zur Modernisierung und gleichzeitig einer der nicht zahlreichen, neueren Bausteine zur Erforschung der pommerschen Geschichte, die - so ist zu hoffen - Anregungen zu weiteren Forschungen gibt und auch Vorbild geben kann, nicht nur jenseits von Oder und Neiße.
Manfred Hanisch