Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart (= Beck'sche Reihe; 6028), München: C.H.Beck 2012, 512 S., ISBN 978-3-406-63028-6, EUR 17,95
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Die meisten Staaten bezeichnen sich heute als Demokratie - nicht nur die europäischen und nordamerikanischen Staaten, in denen die moderne Demokratie entstanden ist, sondern auch die meisten lateinamerikanischen und seit dem arabischen Frühling im Jahr 2011 auch viele arabische Staaten. Aber auch Staaten, die wir gemeinhin als autoritär oder diktatorisch wahrnehmen, berufen sich auf die Demokratie. Der Iran versteht sich als Demokratie, auch wenn nach der herrschenden Staatsdoktrin die Staatsgewalt nicht vom Volk, sondern dem geistlichen Führer ausgeht. China bekennt sich zur "sozialistischen Demokratie chinesischer Prägung", sieht regelmäßige freie Wahlen dafür allerdings nicht als notwendig an. Selbst das diktatorisch regierte Nordkorea nennt sich Demokratische Volksrepublik. Auch innerhalb westlicher Gesellschaften wird der Begriff "demokratisch" für verschiedenste Formen politischen Handelns verwendet: für Wahlen und Parlamentsbeschlüsse ebenso wie für Demonstrationen und Sitzblockaden. Der Begriff "Demokratie" ist so vieldeutig, dass er unterschiedlichste Regierungsformen und politischer Prozesse bezeichnet. Was aber ist Demokratie wirklich? Dieser klärungsbedürftigen Frage stellt sich Paul Nolte in seinem neuen Buch.
Was ist Demokratie? gibt nicht nur einen umfassenden Überblick über die in unterschiedlichen Bahnen verlaufende und durch lange Unterbrechungen gekennzeichnete Geschichte der Demokratie von der griechischen Antike bis zur Gegenwart, sondern diskutiert auch zahlreiche Demokratietheorien. Damit unterscheidet sich dieses Buch von rein historischen Abhandlungen einerseits [1] und rein sozialwissenschaftlichen Überlegungen über Formen und Konzepte von Demokratie andererseits. [2] Zwar liegt der geographische Schwerpunkt auf Europa und Nordamerika, doch Nolte geht auch auf Ausformungen der Demokratie in anderen Teilen der Welt wie z.B. in Israel, Indien und Japan ein. In neun analytischen Großschritten zeichnet er die Entwicklung der Demokratie nach und erörtert zentrale Aspekte der zeitgenössischen Demokratiediskurse. Die Gliederung ist thematisch, verläuft - grob betrachtet - aber auch weitgehend chronologisch.
Nolte beginnt mit der "Erfindung" der Demokratie in Athen, behandelt die römische Republik, setzt seine Analyse dann bei den vormodernen Wurzeln moderner Demokratie in den Republiken der Frühen Neuzeit fort und skizziert die politischen Leitvorstellungen der Aufklärung im 18. Jahrhundert (Kapitel 2). Sodann diskutiert er die vier großen Revolutionen - die "glorreiche" englische von 1688/89, die amerikanische von 1776, die französische von 1789 sowie die deutsche von 1848/49 (Kapitel 3). In Kapitel 4 behandelt der Autor die Entstehung der institutionellen Ordnungen von Demokratien: der Parlamente, der Gewaltenteilung, der Wahlen und der Menschenrechte. Darauf folgt eine Analyse der demokratischen "Expansionen" vom Zensus- und Klassenwahlrecht zum allgemeinen Wahlrecht sowie zur Inklusion der Arbeiter, Schwarzen und Frauen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts (Kapitel 5). Kapitel 6 erläutert, wie die moderne Demokratie mit dem Durchbruch der Massengesellschaft in die Krise geriet und wie sie in vielen europäischen Ländern von der faschistischen oder kommunistischen Diktatur abgelöst wurde. Daran anknüpfend diskutiert Nolte, wie Demokratien aus Krisen gelernt haben und wie neue Ansprüche auf Freiheit und Partizipation gestellt wurden (Kapitel 7). Im Zentrum steht dabei die Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg: die Konsequenzen, die aus dem Scheitern der Weimarer Republik für das Grundgesetz gezogen wurden, aber auch die Forderungen nach weiter gehender Partizipation sowie die Ausweitung der Demokratie über den politisch-staatlichen Bereich hinaus in die Wirtschaft, die Universitäten, die Schule und die Familie in den 1960er und 1970er Jahren. Kapitel 8 zeigt auf, wie seit den 1970ern die klassische Demokratie der Parlamente und Parteien um Formen der direkteren Bürgerbeteiligung wie Plebiszite, Runde Tische und Bürgerbeauftragte ergänzt worden ist. Im letzten Kapitel problematisiert der Autor u.a. die "Spannungslinien" zwischen Demokratie und Kapitalismus sowie Demokratie und Islam.
In Was ist Demokratie? erzählt Nolte zugleich eine "Erfüllungsgeschichte" (17), "Krisengeschichte" (19) und die Geschichte einer "Suchbewegung" (18) der Demokratie und zeigt überzeugend die Vielfältigkeit und historische Wandelbarkeit von Demokratien. Pointiert und sachkundig analysiert der Autor die Entwicklung der Demokratie und der Demokratiediskurse in Antike und Neuzeit, fasst zahlreiche Demokratietheorien elegant zusammen und erklärt nicht nur, wie sich die Demokratie zur weltweit als Maßstab anerkannten Staatsform durchgesetzt hat, sondern auch wie sie sich von einer "bescheidenen", auf regelmäßige Wahlen beschränkenden repräsentativen Demokratie zu einer "multiplen Demokratie" erweitert hat, die neben den Parlamenten auch Bürgerproteste, soziale Bewegungen, Volksabstimmungen und zivilgesellschaftliches Engagement mit einbezieht. Das Konzept der "multiplen Demokratie" bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen von Demokratie weltweit (466). Dem Autor ist es gelungen, die komplexe und widersprüchliche Geschichte der Demokratie auf höchst anregende Weise darzustellen.
Noltes These ist, dass die Stärke der Demokratie in ihrer Schwäche liegt. Ihre Schwäche - das ständige Infragestellen und Kritisieren ihrer selbst - führt zu ihrer Anpassungsfähigkeit und damit ihrer Langlebigkeit. Sie sei eine vielseitige, sich ständig weiter entwickelnde Staatsform (473). Er prophezeit der Demokratie deshalb eine erfolgreiche Zukunft: Weltweit sei die Demokratie im Vormarsch. Im Westen demokratisiere sich die Demokratie durch neue Parteibildungen wie die Piraten oder neue Protestformen wie die 'Besetzung' der New Yorker Wall Street durch die Occupy-Bewegung (472). Zweifler wie Colin Crouch, die von der "Postdemokratie" sprechen, weist er zurück, da deren "Abgesänge auf die Demokratie [...] nicht nur voreilig, sondern auch gefährlich" seien (471). [3] Dabei gesteht Nolte ein, dass die Demokratie weltgeschichtlich betrachtet noch eine junge und außerdem kontingente Staatsform ist.
Nolte sieht die Zukunft der Demokratie optimistisch, weil - darin folgt er Francis Fukuyamas These vom "Ende der Geschichte" [4] - kaum jemand sie grundsätzlich in Frage stelle oder eine attraktive Alternative propagiere. Das mag richtig sein, verkennt aber das Problem, dass unter Demokratie vieles verstanden werden kann. Hier sei kritisch angemerkt, dass das Buch auf die Frage "Was ist Demokratie?" keine eindeutige Antwort gibt. Da der Autor eine "Erfüllungsgeschichte" der Demokratie schreibt, in der zahlreiche Krisen den Siegeszug der Demokratie und ihre stete Vervollkommnung nicht haben aufhalten können, interpretiert er den in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Bedeutungsverlust von Parlamenten und Parteien zugunsten neuer und direkterer Formen der Partizipation weitgehend positiv. Sein Konzept der "multiplen Demokratie", in der die repräsentative Demokratie von neuen Möglichkeiten der Mitwirkung überlagert wird, ist jedoch definitorisch unklar. [5] Sind auf die Straße getragene Proteste von Bürgern notwendigerweise demokratischer als Beschlüsse gewählter Parlamente? Zeichnet der in Volksparteien, Koalitionen und zwischen den Gewalten ausgehandelte Kompromiss die Demokratie aus oder der unmittelbare, sich klaren Alternativen stellende und in Volksentscheiden zu bestimmende Wille der Mehrheit? Ist es demokratisch, wenn eine Mehrheit der Schweizer in direkter Wahl ein Minarett-Verbot durchsetzt oder wenn die Rechte von Minderheiten gegen Mehrheitsbeschlüsse geschützt werden? Im heutigen Diskurs wird das Etikett "demokratisch" häufig in Anspruch genommen, für welches Verfahren man auch stehen mag.
Dies gilt nicht nur für die westlichen Gesellschaften, sondern auch weltweit. In arabischen Staaten berufen sich Islamisten auf die Demokratie, wenn sie durch freie Wahlen an die Macht gelangt sind, ebenso wie säkulare Parteien, die die Trennung von Staat und Religion als Markenzeichen der Demokratie betrachten. Eine Antwort auf die Frage, nach welchen Kriterien Demokratie zu definieren ist, gibt Nolte aber nicht, da er sie in einem steten Wandel sieht. Was aber sind die essentiellen, nicht hintergehbaren Standards der Demokratie, nach denen der demokratische Anspruch von Staaten überprüft werden kann?
Man mag Noltes optimistische Sicht nicht teilen, dass die Demokratie - von die Entwicklung nur retardierenden Unterbrechungen und Krisen abgesehen - nur Fortschritt kennt und sich in immer direkteren Mitwirkungsrechten verwirklicht, aber sein Buch über die Geschichte der Demokratie ist lehrreich, differenziert, von profunder Kenntnis nicht nur historischer Entwicklungen, sondern auch politik- und sozialwissenschaftlicher Theorien geprägt und darüber hinaus sehr lesbar.
Anmerkungen:
[1] Vgl. John Dunn: Democracy. A History, New York 2005.
[2] Vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, 5. Aufl. Wiesbaden 2010. Bernard Frevel: Demokratie. Entwicklung, Gestaltung, Problematisierung, 2., überarb. Aufl. Wiesbaden 2009.
[3] Colin Crouch: Postdemokratie, Berlin 2008.
[4] Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992.
[5] Vgl. auch Paul Nolte: Von der repräsentativen zur multiplen Demokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-2/2011, 5-12.
Jasper Trautsch