Patrick Kupper: Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks (= Nationalpark-Forschung in der Schweiz; Bd. 97), Bern: Haupt Verlag 2012, 371 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-258-07719-2, EUR 46,90
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2014 wird der 100jährige Geburtstag des ersten und einzigen Schweizerischen Nationalparks gefeiert. Bekanntermaßen bieten Nationalparks spektakuläre Aus- und Einsichten - nicht nur für Touristenströme und reisende Naturfreunde. Sie sind prominente, politisch und kulturell hoch aufgeladene Territorien. Diese Inseln der natürlichen Schönheit eignen sich hervorragend dafür, die Historizität von Natur darzustellen. Sie bilden sowohl Projektionsflächen für gesellschaftliche Visionen unterschiedlichster Art als auch Kampfzonen, in denen sich die harten Auseinandersetzungen über Deutungsmacht von Natur ballen. Das US-amerikanische Ursprungsmodell, das das Label 'Nationalpark' seit Ende des 19. Jahrhunderts prägt und strukturiert, wurde längst kritischen Analysen unterzogen. Eine detailliertere historische Untersuchung des Schweizer Modells, das seinerzeit in der internationalen Naturschutzszene Furore machte, stand bisher aus.
Der Schweizer Umwelthistoriker Patrick Kupper hat nun ein Buch über die lange Geschichte des Schutzgebietes geschrieben, das die reiche Tradition von Widersprüchen im Mensch-Natur-Verhältnis der Moderne kreativ zu nutzen versteht. Er wählt das Focaultsche Konzept der "Heterotopie", um die ideelle und räumliche Eigenart eines Nationalparks zu fassen: So werden diese Reservate als Kontaktzonen definiert, in denen die vermeintliche Wildnis zwar dem zivilisatorischen Fortschritt entzogen werden, gleichzeitig aber den Menschen zugänglich bleiben (15). Kuppers Forschung über das heute 170 Quadratkilometer große Gebiet im Unterengadin ist in Kontexte eingebettet, die weit über die Schweiz hinausreichen. Drei Punkte erscheinen dabei für die Denkfiguren der Moderne konstitutiv: die dualen Kategorien, die die Gegensätze Natur-Kultur kennzeichnen, die Globalität, die die Welt als 'einen' Ort fasst, und schließlich die Evolution, die das Weltgeschehen als eine zeitlich geordnete Entwicklung begreift. Diese Punkte werden im Verlauf immer wieder aufgenommen und überprüft.
Das Buch beginnt mit einer Analyse des fundamentalen Wandels der Naturrezeption am Ende des 19. Jahrhunderts und fächert die transnationale Geschichte des Nationalparks auf. Verlusterfahrungen, die Expansion der naturwissenschaftlichen Lesart von Umwelt und ein durch den Kolonialismus verstärktes globales Bewusstsein synchronisierten die vornehmlich westlichen bürgerlichen Eliten in ihrem Bestreben, Naturschutz als ein Vorhaben der sogenannten zivilisierten Staaten zu propagieren. Die amerikanischen Nationalparks galten zwar als Referenzmodell, dessen verkaufsfördernden Labels man sich gerne bediente. In der Schweiz verpackte man 1914 damit aber ein recht konträres Schutzvorhaben. Während in den USA der Nationalpark ein tourismusförderndes Reservatsprojekt mit einer einzigartigen Naturkulisse darstellte, zäunten die Schweizer Protagonisten ein alpines Gebiet ab, das weder besonders markante Geländeformationen aufwies noch dem Fremdenverkehr diente. Obgleich naturnah, sollte hier unter naturwissenschaftlichem Regime aus einer Kulturlandschaft wieder 'Urnatur' geschaffen werden, indem die Fläche vor jeglichen Eingriffen geschützt würde.
Das radikale Modell des Totalschutzes, mit dem sich die Schweizer Akteure weltweit zu profilierten suchten, wurde in den internationalen Netzwerken heiß diskutiert. Es bot ein neues Konzept, an dem sich Dritte orientierten oder von dem sie sich abgrenzten. Kupper zeigt deutlich, dass die Nationalparkidee keineswegs von Yosemite aus rund um die Welt expandierte, sondern dass eine "komplexe Translation" stattfand (81), die jeweils den nationalen und lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst wurde.
In der Folge beschäftigt sich Kupper intensiv mit den Bruchkanten, die sich rasch im Alltag des Nationalparks auftaten und die bis heute nachwirken. Dazu gehören unter anderem die schwierigen Kontakte zwischen den Nationalparkautoritäten und der ansässigen Bevölkerung - einer der neuralgischen Punkte fast aller Schutzgebiete. Nachdem die Gemeinden die anliegenden Flächen gegen eine durchaus lukrative Pacht zur Verfügung gestellt hatten, kam es zu massiven Entfremdungsphänomenen. Der Park wurde "quasi aus den lokalen Verhältnissen herausgekauft" (132f.): Eine Beteiligung der Ansässigen war nicht vorgesehen, und die geografischen Grenzen wurden zu sozialen Grenzen.
Überhaupt entzündeten sich an den künstlichen Grenzziehungen grundlegende Konflikte. Wie total durfte und sollte der "Totalschutz" denn realiter sein? Diese Frage stellte sich beispielsweise hinsichtlich der Tiere, die sich in ihrem Eigensinn keineswegs an die Grenzen des Nationalparks hielten. Sollten die Borkenkäfer in Schach gehalten, tollwütige Füchse geschossen, hungernde Rothirsche im Winter zugefüttert werden? Durfte man Salzleckstellen einrichten, um das so sorgsam ausgewilderte Steinwild davon abzuhalten, den Park zu verlassen? Jede dieser Tierbewegungen verdeutlichte, dass die strikte Trennung von Zivilisation und Natur, von Park und Umland eine höchst prekäre Angelegenheit war.
Weitere Konfliktpunkte zeichneten sich rasch ab. Dazu gehörte auch der wachsende touristische Druck auf die Fläche oder der massive Ausbau von technischer Infrastruktur wie Wasserkraftwerken und Straßen, an denen sowohl die anliegenden Gemeinden als auch der Bund Interesse hatte. Aber auch die Wissenschaftler, die das Privileg genossen, sich in dem Gebiet verhältnismäßig unbeschränkt aufzuhalten, kamen an ihre Grenzen. Kupper zeigt deutlich die Defizite der wissenschaftlichen Erforschung. Die angestrebte Rückverwandlung der Natur, die sie beobachten sollten, überstieg die eigene Lebenszeit - schnelle Ergebnisse und akademische Meriten brachte das nicht ein. Schließlich mussten sie feststellen, dass die anthropogenen Faktoren, die ihre ökologischen Untersuchungen und die Herstellung von 'Urnatur' beeinträchtigen, nicht auszuschalten waren.
Das Buch zeichnet sich nicht nur durch die fundierte und plastische Darstellung der Akteure und Räume, sondern auch durch eine kluge Illustrierung aus. Obwohl er keine expliziten Bildanalysen vornimmt, nutzt der Autor das visuelle Material, um den Wandel der Natur- aber auch der Selbstwahrnehmung dazustellen. Zu den eindrücklichsten Bildstrecken gehört die Dokumentation über die Auswilderung von Steinböcken, die in dem Gebiet seit dem 16. Jahrhundert ausgestorben waren: Eine lange Prozession zieht mit sieben sperrigen Holzkisten zu Fuß durch das Schutzgebiet: So sah Eventnaturschutz bereits 1920 aus (145).
Patrick Kupper hat ein wunderbar lesbares, klar strukturiertes und innovatives Buch geschrieben, das eine konzise und facettenreiche Geschichte des Schweizer Nationalparks liefert, und gleichzeitig neue Perspektiven für die internationale Umweltgeschichtsschreibung eröffnet. Seine Analyse bietet zudem ein großes Potenzial für den angewandten Naturschutz und dessen Reservatspolitik. Besonders die Erörterung der Historizität über Wildnis zeigt plastisch, wie dynamisch die Aushandlungsprozesse über 'geschützte' Natur waren und sind. Am Ende der Untersuchung ist der mühsame Erkenntnisprozesse, der sich in der Nationalparkgeschichte abbildet, auf den Punkt gebracht: "Wildnis ist nicht, Wildnis wird geschaffen, sie ist kein natürlicher Zustand, sondern ein historischer Prozess" (295). Das Buch wird den vielen unterschiedlichen Akteure im heterotopen Raum des Reservats gerecht und könnte sie so animieren, sich dem Wandel von gesellschaftlichen Bedürfnissen neugierig und selbstkritisch zu stellen.
Anna-Katharina Wöbse