Christiane Reves: Vom Pomeranzengängler zum Großhändler? Netzwerke und Migrationsverhalten der Brentano-Familien im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 23), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, 369 S., 34 Tabellen, 31 Abb., ISBN 978-3-506-77107-0, EUR 39,90
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Die Arbeit befasst sich mit den italienischen Händlern, die im 17. und 18. Jahrhundert nördlich der Alpen Waren aus ihrer Heimat verkauften. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die weitverzweigten und auch heute noch bekannten Familien der Brentanos, die aus der Gegend um den Comer See stammten und ihre Handelstätigkeit im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts immer weiter nach Norden ausdehnten. Sie etablierten wichtige Niederlassungen in den großen europäischen Handelsmetropolen, insbesondere in Frankfurt am Main, das in der vorliegenden Studie als wichtigste Zielregion der Brentanos besondere Aufmerksamkeit erfährt.
Die Verfasserin nähert sich ihrem Gegenstand mit dem methodischen Rüstzeug der historischen Migrationsforschung und der Netzwerkanalyse. Die Wanderungsbewegung von Mitgliedern der Brentano-Familien vom Comer See in die Handelszentren nördlich der Alpen wird nach den bewährten Regeln der Migrationsforschung abgehandelt. Es werden die Ursachen für den Wegzug aus der Heimat, der Reiseverlauf und die Eingliederung am Zielort untersucht. Der Migrationsprozess wird dann in den Zusammenhang der Handelsbeziehungen, der Organisationsstrukturen des Handels und der Familienzusammenhänge der Brentanos am Comer See und in Frankfurt eingebettet, wobei diese Kontexte mittels der Analysekategorie des Netzwerks erfasst werden.
Das Buch ist in acht Hauptkapitel gegliedert. Zunächst werden die Ausgangsbedingungen am Comer See geschildert, vor denen die Familie Brentano ihre Handelstätigkeit entwickelte. Die Brentanos waren keineswegs arm. Sie betrieben Landwirtschaft am Comer See, sie verfügten über Grund- und Hausbesitz und gehörten als freie Grundbesitzer einer Oberschicht an, die in den Dorfgemeinden wichtige Ämter bekleidete. Dass die Brentanos im Laufe des Untersuchungszeitraums immer wohlhabender wurden, lässt sich nicht zuletzt anhand der Höhe der Mitgiften nachweisen, die bei Hochzeiten bezahlt wurden.
In den folgenden Kapiteln wird dargestellt wie sich der Aktionsradius der Brentano-Familien seit dem 17. Jahrhundert langsam immer weiter nach Norden erweiterte und die Migrationsdichte im 18. Jahrhundert deutlich zunahm. Die Brentanos handelten erfolgreich mit allerlei Gütern aus dem Land, wo nicht nur die Zitronen, sondern auch viele andere Mittelmeerfrüchte blühten und außerdem die Produktion von Textilien florierte. Ferner wurden Dinge angeboten, die die Zeitgenossen nördlich der Alpen unter den Oberbegriffen "Spezereien" und "Galanterien" zusammenfassten. Der transalpine Handel verlief in den Bahnen der bestehenden Familiennetzwerke, in die die nach Norden wandernden Kaufleute auch in der Zielregion fest integriert blieben. Sie behielten ihre Grundstücke am Comer See und verheirateten sich in der Regel mit Frauen aus der Heimat. Patriarchalische Hierarchien und Eheschließungen, die über die Familiennetzwerke arrangiert wurden, stärkten die Familienverbände und trugen dadurch auch zur Festigung der geschäftlichen Beziehungen innerhalb der Familiennetzwerke bei.
Christiane Reves unterscheidet vier Netzwerkebenen. Die erste Ebene bezieht sich auf die Familienverbände in der Heimat, die in vieler Hinsicht von den Brentanos in Frankfurt geprägt wurden. Die Händler in Frankfurt vermieteten ihre Häuser am Comer See an Daheimgebliebene, sie gaben Kredite und verpachteten Grundstücke. In absentia blieben sie wichtige Arbeitgeber in ihrer Herkunftsregion. Sie übernahmen von Frankfurt aus Vormundschaften und Pflegschaften für Angehörige, sie unterstützten die Ausbildung junger Männer für den Fernhandel, und sie spendeten Gelder an die katholischen Kirchengemeinden in ihrer Heimat.
Die zweite Netzwerkebene bezieht sich auf die organisatorische Dimension des Fernhandels zwischen der Herkunftsregion und Frankfurt und analysiert den inneren Aufbau und die Funktionsweise der Gesellschaften, über die dieser Handel abgewickelt wurde. Auf einer von der Verfasserin definierten dritten Netzwerkebene werden die Beziehungen zwischen den verschiedenen Handelsgesellschaften untersucht, wobei zunächst die enge Zusammenarbeit zwischen den Gesellschaften aus dem Comer Raum dargestellt wird, um dann deren Integration in geographisch weiterreichende, sich über ganz Kontinentaleuropa erstreckende Handelsnetze aufzuzeigen.
Die vierte Netzwerkebene geht von den Brentanos in Frankfurt am Main aus und setzt sich zum einen mit deren Handelsbeziehungen, zum anderen mit deren rechtlicher und sozialer Integration vor Ort auseinander. Die italienischen Händler waren in Frankfurt einer harten Konkurrenz ausgesetzt. Zwar gelang es den Brentanos und anderen italienischen Handelsdynastien, sich langfristig in Frankfurt zu etablieren, sie waren jedoch in ständige Rechtsstreitigkeiten verwickelt, in denen es im wesentlichen darum ging, wer auf dem Frankfurter Markt welche Waren zum Verkauf anbieten durfte. Alteingesessene Frankfurter Bürger warfen den Zugezogenen vor, sie würden mit Produkten handeln, für die sie keine amtliche Erlaubnis hätten. Die Kritik an vermeintlichen Verstößen gegen die wirtschaftlichen Konventionen wurde immer wieder von xenophoben Äußerungen begleitet, wenn zum Beispiel abwertende Vergleiche mit jüdischen Händlern gezogen wurden. Um die spezifischen Probleme der Einbürgerung in Frankfurt deutlich zu machen, zieht die Verfasserin einen Vergleich zwischen Frankfurt und dem Erzbistum Mainz, wo die Integration der katholischen Händler vom Comer See offenbar leichter fiel als in der protestantischen Reichsstadt.
Die Studie überzeugt vor allem durch die sorgfältige Auswertung der Quellenbestände, die aus Archiven in Mailand, Como, Frankfurt a. M. und Mainz erschlossen wurden. Es wäre der Arbeit allerdings zugute gekommen, wenn die aus den Quellen erarbeiteten Befunde über die Brentano-Familien, die sehr breit ausgeführt werden, etwas besser zu den neuesten Forschungsergebnissen über frühneuzeitliche Handelsnetzwerke in Bezug gesetzt worden wären. In den letzten Jahren ist, um nur einige Themenfelder zu nennen, viel über die deutschen Kaufleute in London im 18. Jahrhundert, über Praktiken des Handels im vorindustriellen Europa, über die atlantischen Handelsnetze der Frühneuzeit und über frühneuzeitliche Kaufmannsdiasporen publiziert worden. Diese Literatur wurde in der bereits 2005 an der Universität Würzburg eingereichten Dissertation nur noch teilweise berücksichtigt. Dennoch handelt es sich um ein interessantes und lesenswertes Buch, in dem durch die Verbindung von Migrations- und Netzwerkforschung und durch das Definieren verschiedener Netzwerkebenen die enge Verzahnung zwischen italienischer Ausgangs- und deutscher Zielregion sehr gut veranschaulicht wird.
Ulrike Kirchberger