Otto von Bismarck: Schriften 1884-1885. Bearbeitet von Ulrich Lappenküper (= Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Neue Friedrichsruher Ausgabe. Abt. III: 1871-1898. Schriften; Bd. 6), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, CXXIII + 855 S., ISBN 978-3-506-77171-1, EUR 78,00
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Das wissenschaftliche Großunternehmen Neue Friedrichsruher Ausgabe (NFA) kann inzwischen auf neun Jahre fruchtbarer Publikationstätigkeit zurückblicken. Inzwischen hat sich der Herausgeberkreis um Holger Afflerbach (University of Leeds) vergrößert, welcher als profunder Kenner insbesondere der Außenpolitik des Deutschen Kaiserreichs vielfältig ausgewiesen ist. Der hier zu besprechende sechste Band der Reihe wurde erneut von Ulrich Lappenküper, Schüler von Klaus Hildebrand und seit 2009 Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, bearbeitet, welcher in bewährter Weise auch die dreißigseitige Einführung verfasste. Diese erleichtert dem Leser den Einstieg in den umfangreichen, fast tausendseitigen Band erheblich, schlägt sie doch eine Schneise in den Wald der 563 abgedruckten Dokumente, von denen 331 (also knapp 60%) erstmals publiziert werden. Für Band 6 gilt erneut, was auch schon über die Vorgängerbände gesagt werden konnte: Er macht die "alte" Friedrichsruher Ausgabe nicht überflüssig, diese wird vielmehr sinnvoll ergänzt. Die Ergebnisse der jüngeren Bismarck-Forschung erfahren durch die neu publizierten Quellen keine grundsätzlichen Korrekturen, vieles wird aber durch sie klarer und nachvollziehbarer. So wird etwa im Hinblick auf die kolonialen Ambitionen des Deutschen Reiches deutlich, dass es Bismarck hierbei vorrangig darum ging, die Beziehungen zu Frankreich zu verbessern, indem er das verfeindete Nachbarland gegen die expansive britische Kolonialpolitik unterstützte. Insofern lag Bismarcks Karte von Afrika, wie er 1888 in der ihm eigenen bildhaften Sprache äußerte, tatsächlich in Europa. Deutlich wird auch, dass innenpolitische, auf Verhinderung eines "deutschen Kabinetts Gladstone" im Falle eines Thronwechsels gerichtete Ambitionen bei Bismarcks Kolonialpolitik im Vergleich zum außenpolitischen Kalkül nur eine untergeordnete Rolle spielten.
Erhellend sind auch Bismarcks Ansichten über die innenpolitischen Probleme der Habsburgermonarchie. Österreich-Ungarn war für den Eisernen Kanzler seit dem Abschluss des Zweibund-Vertrags der wichtigste Bündnispartner, weil diese Allianz für ihn auf Dauer angelegt war. Eine solche Konstellation setzte auf der Seite des Deutschen Reiches den vollständigen Verzicht auf "großdeutsche" Ambitionen voraus wie auch ein unbedingtes Interesse an der innenpolitischen Stabilität der trotz des Ausgleichs von 1867 immer noch fragilen Doppelmonarchie. Vor diesem Hintergrund kritisierte Bismarck scharf die politischen Ambitionen des österreichischen Deutschliberalismus: "Die Dynastie ist das zusammenhaltende, die parlamentarischen Kämpfe sind das trennende Prinzip und gerade von den Deutschen ist es ein hoher Grad von politischer Unklarheit und Unfruchtbarkeit gewesen, anstatt eine starke Monarchie zu pflegen, nach Parlamentarischer Majoritätsherrschaft zu streben; bei der sie natürlich auf die Dauer den slawischen Mehrheiten verstärkt durch das Gewicht der magyarischen Opposition gegen das Deutschthum unterliegen müssen." (Dok. 32). Da der Gewinner in einer solchen Konstellation in jedem Fall Russland sei, betrachtete Bismarck die Magyaren dennoch als natürliche Verbündete der preußisch-deutschen Interessen (Dok. 10). Solche Aussagen belegen, dass die Beschwörung der Solidarität der Throne gegen "anarchische Entwicklungen im Inlande" und "den Andrang revolutionärer Fluten", wie sie Bismarck etwa am 18. Oktober 1884 gegenüber Kaiser Franz Joseph sehr suggestiv vorbrachte (Dok. 250), keineswegs einfach nur Rhetorik war, sondern dass das Bündnis zwischen Wien und Berlin in Bismarcks Perspektive maßgeblich auf einem dynastisch fundierten, letztlich antiparlamentarischen Konsens ruhte: Im Deutschen Reich sollte so die herausgehobene Stellung Preußens gesichert und in der Habsburgermonarchie der weiteren Destabilisierung der cisleithanischen Reichshälfte ein Riegel vorgeschoben werden.
Erhellend sind auch die in dem vorliegenden Band aufgeführten Dokumente betreffend König Ludwig II. von Bayern. Sie belegen die Wertschätzung, die Bismarck für diesen unglücklichen Monarchen empfand, mit dem er als einzigem Bundesfürsten regelmäßig über politische Fragen korrespondierte. Andererseits war sich Bismarck der schwierigen Lage, in der sich der König wegen seiner privaten Finanzprobleme befand, wohl bewusst und fürchtete vor dem Hintergrund des immer noch nicht beigelegten Kulturkampfs im Reich, die ultramontanen Kräfte in Bayern könnten aus dieser Krise Kapital schlagen (Dok. 478, ebenso Dok. 37 und 83). Bismarck war sich allerdings vollkommen darüber im Klaren, dass ohne Einsicht des Königs und dessen Bereitschaft, seinen "Verschwendungen Schranken aufzuerlegen", alle Bemühungen "für die Verhütung einer drohenden finanziellen Katastrophe" scheitern mussten. Man darf insofern gespannt sein, ob die Herausgeber und ihr Team für den anstehenden Band 7 neue Quellen zum Sturz und zum Tode Ludwigs II. ans Licht befördern. Obgleich Bismarck in seiner Korrespondenz mit dem Bayernkönig stets den föderativen Charakter der Reichsverfassung beschwor, zeigt beispielsweise die Braunschweiger Thronfolgefrage nachdrücklich, dass er aus Gründen der preußischen Staatsraison bedenkenlos einzelstaatliche Interessen wie auch die Rechte des Bundesrats beiseite wischte. So erzwang er vom Bundesrat eine Erklärung, dass eine Erbfolge Herzog Ernst Augusts von Cumberland - der als Erbe Georgs V., des letzten Königs von Hannover, weiterhin das von Preußen 1866 annektierte Königreich Hannover beanspruchte - mit dem inneren Frieden und der Sicherheit des Reiches nicht verträglich sei (Dok. 418). Gleichzeitig betrieb er die Wahl eines preußischen Regenten, wobei er mit entwaffnender Offenheit äußerte, von einer Wahl des Prinzen Reuß, der ebenfalls im Gespräch war, sehe er "für die Dynastie, in deren Diensten ich bin, keinen Vortheil." (Dok. 478). Vom braunschweigischen Landtag wurde dann bekanntlich Prinz Albrecht von Preußen zum Regenten gewählt. Die braunschweigische Erbfolgefrage belegt eindrucksvoll, dass Bismarck politisch ein langes Gedächtnis hatte und Versöhnungsbereitschaft nicht zu seinen Stärken gehörte.
Dass er politische Konflikte bis über den Tod hinaus austrug, belegt der Fall des linksliberalen Reichstagsabgeordneten Eduard Lasker, welcher am 4. Januar 1884 in den USA verstarb. Lasker war ursprünglich Mitglied der Nationalliberalen Partei gewesen, gehörte dann aber 1880 zu den Begründern der Liberalen Vereinigung, die 1884 in der Deutschen Freisinnigen Partei aufging. Bismarck hatte Lasker sich nicht zuletzt dadurch zum Feind gemacht, weil dieser an der Aufklärung des Wirtschaftsskandals um die Berliner Nordbahn maßgeblich beteiligt gewesen war. Als dem Reichskanzler durch den Gesandten der USA eine für den Deutschen Reichstag bestimmte offizielle Beileidsbekundung des US-amerikanischen Repräsentantenhauses zugeleitet wurde, setzte er alles daran, diese Ehrung wieder zunichte zu machen. Bismarck weigerte sich nicht, nur, die Resolution weiterzuleiten, sondern drohte dem Reichstag für den Fall einer offiziellen Antwortadresse mit der Auflösung; außerdem untersagte Bismarck Angehörigen der Reichsleitung - in der Einführung (XX) wie in der Einleitung zu Dokument 19 ist fälschlich von "Reichsregierung" die Rede, ein Terminus, den es amtlich erst seit 1919 gab - die Teilnahme an der Beisetzung von Lasker. Es fehlt hier der Raum, um weitere Themenfelder auszubreiten. Kritisch ist anzumerken, dass, was bereits viele Rezensenten vermerkt haben, nach wie vor ein Sachregister fehlt und auf die Angabe von Spezial- bzw. Forschungsliteratur immer noch verzichtet wird.
Zusammenfassend kann dennoch festgehalten werden, dass auch im Lichte dieses sechsten Bandes das Urteil über die NFA nach wie vor sehr lobend ausfallen kann. Hier wird ein großartiges Editionsprojekt von bleibendem Wert fortgesetzt, das aus der gegenwärtigen wie künftigen Forschung zur Geschichte des Deutschen Kaiserreichs nicht mehr wegzudenken ist. Es ist eigentlich bedauerlich, dass derartige ambitionierte Werke von erheblichen Teilen der deutschen historischen Forschung wie auch in der universitären Lehre immer noch zu wenig rezipiert werden. Dem könnte möglicherweise entgegengewirkt werden, wenn die Herausgeber sich entschließen könnten, der Druckausgabe eine digitale Version folgen zu lassen.
Matthias Stickler