Frank Fehlberg: Protestantismus und nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 93), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2012, 520 S., ISBN 978-3-8012-4210-7, EUR 58,00
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Wenige Politiker des liberalen deutschen Parteienspektrums haben eine solche Fähigkeit zu politischer Synthese entwickelt wie Friedrich Naumann, der die zersplitterten liberalen Parteien zunehmend einigte, der darüber hinaus das breite Reformbündnis gegen die konservativ-klerikalen Parteien von den Nationalliberalen bis zu den Sozialdemokraten anstrebte und schließlich die liberale DDP in die Weimarer Koalition mit SPD und katholischem Zentrum einbrachte. Dies rechtfertigt die Auseinandersetzung mit seiner Persönlichkeit, seinen Parteien, Organen und Publikationen in den letzten Jahren. [1] Fehlberg legt das Gewicht seiner für die Druckfassung überarbeiteten Leipziger Dissertation nicht nur auf die Existenzphase des Nationalsozialen Vereins, NSV (1896-1903), sondern auch auf den Zeitraum bis zu Naumanns Tod 1919. Im Zentrum stehen die Gedankenbiografien von fünf nationalsozialen Theologen, gebürtig in den 1860er Jahren, die zu ihren Lebzeiten eine teilweise sehr beträchtliche öffentliche Resonanz hatten.
Nach einer Einleitung, in der der Autor die liberale Theologie von der Orthodoxie abgrenzt, seinen offenen Sozialismusbegriff erläutert und seine an der Theorie von der Netzwerkstruktur der Wirklichkeit orientierte wissenschaftliche Methode vorstellt, ein Unterfangen, dessen Grenzen er sich bewusst ist, geht er zunächst auf die Gemeinsamkeiten der fünf Gedankenbiografien ein. Diese erkennt er in der individuellen und religiösen Sinnkrisis der Beteiligten, ihrer Auseinandersetzung mit Darwinismus und Sozialismus und ihrer Hinwendung zum Sozialetatismus. Aufgrund ihrer theologischen Ausbildung begründet Fehlberg den Begriff protestantischer nationaler Sozialismus, um die Position der zumeist in den Freisinnigen und der Fortschrittspartei aufgegangenen Nationalsozialen adäquat zu beschreiben.
Unter den nationalsozialen Theologen, mit denen Fehlberg sich in je einem eigenen Kapitel auseinander setzt, ragen neben Naumann der vom Evangelischen Oberkirchenrat suspendierte Pfarrer Gottfried Traub und der ethische Imperialist Paul Rohrbach hervor, während die Erfolgsschriftsteller Gustav Frenssen und Arthur Bonus beinahe vergessen sind. Bonus vertrat eine Germanisierung des Christentums, die er als Modernisierung verstand, um den kirchenfernen Teil der Deutschen zu erreichen. Er kritisierte die Kirche, aber nicht das Christentum, dessen Individualisierung und Nationalisierung er intendierte. Weiter von der Institution Kirche entfernte sich Gustav Frenssen, der sich nach wenigen Jahren als Pfarrer der Schriftstellerei widmete. Theologisch eher anspruchslos, verstand er Jesus nicht als Erlöser, sondern als Mann aus dem Volk, dessen Leben er in einem seiner Romane nach Holstein verlegte, während er Jesus völlig vom Judentum löste, indem er ihm einen nichtjüdischen Glauben unterstellte. Traub machte sich im Fall Jatho, der auch zu seiner Entlassung führte, einen Namen und setzte sich für die Volks- statt die Staatskirche ein. Obwohl Traub ein Gegner des uneingeschränkten U-Bootkriegs war, schloss er sich 1917 der imperialistischen Vaterlandspartei, 1918 der teilweise chauvinistischen DNVP an und wirkte am Kapp-Putsch mit, um die angeblich illegitime Weimarer Republik zu bekämpfen. Während Rohrbach als Bewunderer des geschmeidigen britischen Imperialismus seit der Jahrhundertwende für ein größeres Deutschland mit wachsenden sozialen und sittlichen Aufgaben warb, war sein Urteil über die Schwarzafrikaner von einem "galoppierenden Kulturrassismus" (282) geprägt. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs rechtfertigte er die deutsche Sache auch theologisch, widersetzte sich aber den maßlosen Kriegszielen der Alldeutschen.
Am ausführlichsten widmet Fehlberg sich Friedrich Naumann, dessen religiösen, ideologischen und politischen Pragmatismus in Verbindung mit seiner charismatischen Persönlichkeit er überzeugend herausarbeitet. Daran wird deutlich, welche Offenheit Naumann für die Sozialdemokraten und ihre Programmatik zeigte, wie differenziert er den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus beurteilte, wie entschieden und - etwa im Vergleich mit Gottfried Traub - reflektiert er parteipolitisch und staatspolitisch nach Macht strebte. Mit dem Machtstaat verband er die Perspektive eines dauerhaften Friedens in größeren Machtblöcken wie schon um 1900, so im Ersten Weltkrieg, als er sein Mitteleuropa-Projekt entwickelte, in dem alle Nationen gleichberechtigt, also keiner Germanisierungspolitik ausgesetzt sein sollten. Unter Kriegsbedingungen nahm er den geschätzten Sozialismusbegriff wieder auf, den er zum Kriegssozialismus weiterentwickelte, vergleichbar dem Elektrounternehmer Walther Rathenau, dessen politische Sozialisation jedoch nicht im NSV erfolgt war. Dem Krieg gewann Naumann insofern etwas Positives ab, als er dem Staat daraus die Lehre einer schnellen Demokratisierung zuwies. Im Gegensatz zur politischen Rechten, auch zu Traub, erklärte Naumann noch vor Kriegsende die Strukturmängel des politischen Systems für die Niederlage verantwortlich und begrüßte den Übergang zum Volksstaat.
Im Schlusskapitel macht Fehlberg Naumanns pastorales Harmoniestreben und seine Versöhnlichkeit für die geringe Beachtung, die das nationalsoziale Konzept in der Ideengeschichtsschreibung gefunden hat, verantwortlich. In einem Ausblick betont er die grundlegende Bedeutung, die Heuss' 1937 erschienene Naumann-Biografie für die Überwinterung des nationalsozialen Gedankenguts im Nationalsozialismus hatte, und den Rang der einstigen jungen Nationalsozialen Theodor Heuss als erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und Otto Nuschke als stellvertretender Ministerpräsident der DDR. Im Fall der DDR bezieht er sich jedoch stärker auf die Funktion der dortigen evangelischen Pfarrer bei der Wende 1989, die der kulturellen und politischen Opposition den staatlich verweigerten Raum gaben, jedoch vielfach für einen freiheitlichen demokratischen Sozialismus eintraten.
Die Anmerkungen sind teilweise überladen, da hier auch Nebenaspekte ausgebreitet werden. Neben dem Literaturverzeichnis enthält ein ausführliches personenbezogenes Quellenverzeichnis ausschließlich gedruckte, teilweise an entlegener Stelle publizierte Quellen.
Grenzen setzt der Arbeit der vornehmlich biografische Ansatz, dessen positiver Ertrag in der recht detaillierten Nachvollziehbarkeit der ideologischen Entwicklung von fünf mehr oder weniger bekannten Auch-Theologen im wilhelminischen Kaiserreich und zu Beginn der Weimarer Republik besteht. Wiederholt fällt dabei die enge Anlehnung an die Gedankenführung in den verwendeten Werken dieser Autoren auf, wobei prinzipielle Haltungen und aktuelle Positionen nicht immer schlüssig differenziert werden. Für die Auseinandersetzung mit dem NSV entscheidend ist die größere Bedeutung von Persönlichkeiten wie dem Soziologen Max Weber und dem Bodenreformer Adolf Damaschke, die in der Arbeit des Autors auf Nebenaspekte beschränkt sind.
Problematisch ist die Verwendung historisch belegter Begriffe, wenn etwa Max Weber dem Nationalliberalismus zugeordnet oder der NSV als "die erste und damit authentischste national-sozialistische Partei" (482) Kleindeutschlands identifiziert wird. Dass somit liberale Politiker wie Theodor Heuss als authentische Nationalsozialisten gewertet würden, beweist die Fragwürdigkeit dieser terminologischen Beliebigkeit. Aufgrund der Begrenzung des Untersuchungszeitraums auf den Zeitraum bis zum Beginn der Weimarer Republik wird Bonus' Proklamation eines "neuen Mythos" (73) aus dem inneren Gotteserlebnis, verbunden mit der Hochschätzung des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart, nicht - auch nicht in dem Kapitel über die Vorläuferdiskussion vom NSV zur NSDAP - mit dem grundlegenden Werk des nationalsozialistischen Chefideologen Arthur Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, verglichen. Im Fall des nationalsozialen Imperialisten Paul Rohrbach legt der Autor dessen Distanz zum Nationalsozialismus dar, nimmt aber seine Verneigung vor Hitler infolge der siegreichen Blitzkriege nicht wahr. [2] Zudem hätte die Frage nach Frenssens Vorläufer-Funktion in Bezug auf die Thüringer Nationalkirchliche Einung und das "Institut zur Erforschung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" stärkere Berücksichtigung verdient.
Fehlberg arbeitet letzten Endes die fundamentale Differenz von NSV und NSDAP heraus. Wichtig erscheinen seine Betonung der aus protestantischem Geist entwickelten nationalsozialen Ideologie und seine Darlegungen zu ihrer Fortwirkung in den liberalen Parteien, insbesondere im Ersten Weltkrieg.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Reiner Marcowitz / Philippe Alexandre (Hgg.): La revue "Die Hilfe", 1894-1944 un laboratoire d'idées en Allemagne. Die Zeitschrift "Die Hilfe", 1894-1944 ein Ideenlabor in Deutschland. Bern 2011. Eric Kurlander: Living with Hitler. Liberal Democrats in the Third Reich. New Haven / London 2009. Rüdiger vom Bruch (Hg.): Friedrich Naumann in seiner Zeit. Berlin / New York 2000.
[2] Vgl. Paul Rohrbach: Der deutsche Gedanke in der Welt, Neubearbeitung 1940. Königstein i.T./Leipzig o.J., 134, 150 f., 156.
Horst Sassin