Matthias Weber / Burkhard Olschowsky / Ivan A. Petranský u.a. (Hgg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 42), München: Oldenbourg 2011, 388 S., ISBN 978-3-486-70244-6, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Seit den 1980er Jahren avancierte der Begriff "Erinnerungsort" zu einem populären Forschungsgegenstand und zum "Modebegriff" innerhalb zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen. [1] Der Terminus geht auf Pierre Noras Werk "Les lieux de mémoire" zurück und bezeichnet einen "materiellen wie auch immateriellen, langlebigen, Generationen überdauernden Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität". [2] In Anlehnung an Noras konzeptionelle Überlegungen erschienen in den letzten Jahren zahlreiche Werke, die Orte, an denen sich das kollektive Gedächtnis einer Nation mit besonderer Intensität offenbart, untersuchen und problematisieren.
In diesen Diskurs reiht sich auch der vorliegende Sammelband ein, der aus einer im Januar 2008 in Warschau abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. In ihren Beiträgen fokussieren die Autoren slowakische, ukrainische, polnische, deutsche, ungarische, russische und tschechische Städte und andere Erinnerungsorte sowie Zeitpunkte, die historische Umbrüche markieren, und begreifen Ostmitteleuropa als "zerrissenen, dezentralen Raum" (11), der durch die Koexistenz unterschiedlicher nationaler und ethnischer Erinnerungskollektive, die divergente historische Erfahrungen aufweisen, geprägt ist. Der daraus resultierende heterogene Gedächtnishorizont rückt ostmitteleuropäische Erinnerungsorte in ein Spannungsfeld unterschiedlicher und oft konträrer Deutungen und Ausprägungen, die in den Aufsätzen des Bandes definiert, diskutiert und problematisiert werden. Ferner betrachten die Autoren die "lieux de mémoire" im Kontext eines gesamteuropäischen Gedächtnisses und zeigen Perspektiven zur (möglichen) Überwindung von Erinnerungskonflikten auf.
Am Beispiel des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau analysiert Alicja Białecka in ihrem Beitrag die Möglichkeiten und Funktionen museums- und gedenkstättenpädagogischer Konzepte innerhalb des Prozesses der Beseitigung eben dieser Erinnerungskonflikte und der Formierung einer lokalen, ethnischen, nationalen und insbesondere gesamteuropäischen Identität vor dem Hintergrund heterogener historischer Erfahrungen. Die Wahrung der eigenen Erinnerung auf der einen und Toleranz gegenüber Kollektivgedächtnissen anderer Opfergruppen auf der anderen Seite können durch Bildungsprojekte, die genaue Kenntnisse historischer Fakten mit intensiven Reflexionen der Besucherempfindungen und -erwartungen verknüpfen, aktiv gestaltet werden und zur Formierung eines "gemeinsamen, inklusiven Gedächtnisses" (184) beitragen.
Auch Stefan Troebst fokussiert in seinem Aufsatz Möglichkeiten zur Überwindung erinnerungskultureller Konflikte. Er diskutiert den Erinnerungsort 1945 im Kontext eines gesamteuropäischen Gedächtnisses. In Bezug auf Dan Diner klassifiziert Troebst dabei den 8. Mai 1945 als Repräsentanten heterogener und oft konträrer "lieux de mémoire", die national konnotiert seien und Konflikte zwischen verschiedenen Erinnerungsgemeinschaften evozieren könnten. Anhand von zehn Thesen zeigt er verschiedene Auslegungen historischer Erfahrungen und deren Konfliktpotenzial in West-, Mittel- und Osteuropa auf und bezeichnet den Erinnerungsort 1945 als "Hemmschuh" (287) innerhalb des Formierungsprozesses eines gesamteuropäischen Gedächtnisses. In Bezug auf Ernest Renan argumentiert er, dass "ein Übermaß an Erinnerungen dem Prozess ihrer Entstehung und Festigung [...] entgegensteht" (295), akzentuiert jedoch auch ein mögliches konstruktives Potenzial des Erinnerungskonfliktes, das einen transnationalen Austausch darüber, "was, wie, wo, wann, von wem erinnert werden soll" (297), evozieren kann.
Eben dieser Dialog und seine Akteure stehen im Zentrum des Aufsatzes von Krzysztof Pomian. Er unterscheidet zwischen innerstaatlichen und internationalen Ausprägungen des geteilten Gedächtnisses und stuft diese als erhebliche Gefahrenquelle für demokratische Strukturen und "die europäische Perspektive mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung aller Staaten und Nationen" (39) ein. Mit Hilfe von Politikern, Pädagogen, Historikern und Künstlern, so schlägt Pomian vor, sollten unterschiedliche Perspektiven auf eine gemeinsame Vergangenheit offengelegt, diskutiert und, "wenn nötig, korrigiert" werden, um durch Maßnahmen wie "Bildungsprogramme, die Errichtung von Denkmälern und Gedenkstätten, sowie die Pflege eigener wie fremder Erinnerungsorte" (ebenda) die Gleichberechtigung divergenter Auslegungen historischer Erfahrungen zu erreichen.
Der vorliegende Sammelband zeichnet sich durch differenzierte Analysen der komplexen Erinnerungsorte Ostmitteleuropas aus und präsentiert interessante Perspektiven im Hinblick auf die Problematik des geteilten Gedächtnisses. Die aufgezeigten Möglichkeiten und Funktionen einzelner Akteure und Institutionen auf dem Weg zu einem gesamteuropäischen Gedächtnis beinhalten zahlreiche (Denk-)Ansätze für Wissenschaftler sowie für Interessierte, die sich informieren möchten, wie historische Zusammenhänge in Ostmitteleuropa erinnert werden.
Anmerkungen:
[1] Heidi Hein-Kircher: Überlegungen zum Verhältnis von "Erinnerungsorten" und politischen Mythen. Eine Annäherung an zwei Modebegriffe, in: dies. / Hans-Henning Hahn u.a. (Hgg.): Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa / Miejsca pamięci, mity i stereotypy w Europie, Wrocław 2008, 11-26, hier 11.
[2] Etienne François: Pierre Nora und die "lieux de mémoire", in: Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005, 7-14, hier 9.
Magdalena Fober