Karsten Brüggemann / Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2010, 361 S., ISBN 978-3-412-20601-7, EUR 24,90
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Karsten Brüggemann / Bradley D. Woodworth: Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012
Ralph Tuchtenhagen: Kleine Geschichte Norwegens, München: C.H.Beck 2009
Karsten Brüggemann / Mati Laur / Pärtel Piirimäe (Hgg.): Die Baltischen Kapitulationen von 1710. Kontext - Wirkungen - Interpretationen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Das vorliegende Werk mit seinen mehr als 300 dicht bedruckten Seiten ist keinesfalls ein "kleines" Buch. Beim Lesen wird auch schnell klar, dass es um viel mehr als nur die Geschichte einer Stadt geht; man kann es wohl auch als eine Einführung in die Geschichte des gesamten Landes benutzen.
Ihre akademische Karriere versetzte Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen in eine günstige Position, um ein solch anspruchsvolles Projekt in Angriff zu nehmen. Brüggemann hat sich intensiv mit der Geschichte Estlands beschäftigt: In seiner Dissertation erforschte er die Gründung der Estnischen Republik im Kontext des Russischen Bürgerkriegs; später hat er sich mit den estnisch-russischen Beziehungen, der Identität der russischsprachigen Minderheit und anderen Aspekten der Geschichte Estlands in neuerer Zeit befasst. Es ist daher nur folgerichtig, dass er die Kapitel für das 19. und 20. Jahrhundert übernommen hat. Tuchtenhagen konnte eine reiche Erfahrung in das Projekt einbringen, da er schon eine Kleine Geschichte Norwegens (2009) sowie eine Kleine Geschichte der Stadt Vilnius (2008) verfasst hat. Am hilfreichsten dürfte wohl aber seine Geschichte der Baltischen Länder (2005) sein. Als Spezialist der Frühen Neuzeit beschreibt Tuchtenhagen die frühere Periode der Geschichte Tallinns.
Die Autoren bemerken mit Recht, dass ihr Werk die erste umfangreichere Gesamtdarstellung der Geschichte Tallinns in deutscher Sprache seit über hundert Jahren ist. Man kann wohl hinzufügen, dass es auch in anderen Sprachen kaum Vergleichbares gibt. In estnischer Sprache ist die Forschung über die Geschichte der Stadt vor allem mit dem Namen Raimo Pullat verbunden. Seine 1969 und 1979 erschienenen Bände sind mittlerweile aber etwas veraltet, insbesondere die letzte Ausgabe über die neueste Geschichte, die noch den marxistisch-leninistischen Dogmen folgen musste. Natürlich hat man viele Spezialstudien über verschiedene Aspekte und Perioden der Stadtgeschichte veröffentlicht, aber zusammenfassende Narrative haben die Historiker in Estland eher gescheut.
Das vorliegende Werk ist durchaus empfehlenswert für alle an der Geschichte des gesamten Estlands vom 13. bis zum 21. Jahrhundert Interessierten. Auch in dieser Kategorie gibt es nur wenig Konkurrenz, am ehesten vielleicht die von Seppo Zetterberg geschriebene Geschichte Estlands. [1] Obwohl der Schwerpunkt von Tuchtenhagen und Brüggemann auf Tallinn liegt, sind einzelne Teile, wie zum Beispiel die Behandlung der sowjetischen Besatzung in Estland, der Interpretation von Zetterberg sogar überlegen. Die Periode des Kalten Krieges ist erst vor kurzem von estländischen Historikern "entdeckt" worden, weil die singende Revolution und die unmittelbare Vergangenheit immer noch als zu frisch für eine objektive Bewertung beurteilt wird. Die von Brüggemann verfassten Passagen über die stalinistische Kulturpolitik, die Fortsetzung und Umgestaltung früherer Traditionen unter der Sowjetmacht und Tallinns Rolle als Vermittler zwischen östlichen und westlichen Einflüssen ergänzen die vorhandenen Darstellungen zur Sowjetperiode, wenn sie diese auch nicht ersetzen können.
Den Verfassern gelingt es, die Geschichte der Stadt mit den regionalen Entwicklungen zu verknüpfen. So wird die Gründung der Stadt im 13. Jahrhundert in den mächtepolitischen Kontext an der Ostsee eingeordnet, dieselbe Methode geleitet den Leser durch die turbulenten Jahre der Livländischen und Nordischen Kriege. Manche politischen Ereignisse des 20. Jahrhundert hätte man vielleicht gründlicher darstellen können. Die Blockade von Tallinn durch die sowjetische Flotte während der Verhandlungen über Militärstützpunkte im September 1939 und die Flucht des polnischen U-Boots Orze ł werden genauso wenig erwähnt wie zum Beispiel der bewaffnete Widerstand an der Raua t änav (Raua-Straße) während des Staatsstreichs vom 21. Juni 1940. Die Ereignisse des Jahres 1991 verlieren ein bisschen von ihrem dramatischen Charakter: Die Errichtung von Barrikaden in der Innenstadt im Januar 1991 wird nicht erwähnt; die Ausrufung der Unabhängigkeit in einer von der sowjetischen Armee besetzten Stadt am 20. August 1991, im Kontext der in zwei unversöhnliche Lager gespaltenen politischen Szene, wird als ganz selbstverständlich geschildert. Bei einer Gesamtdarstellung kann man natürlich nie den Vorwurf vermeiden, dass etwas vernachlässigt werde, was einem Historiker wichtig erscheinen mag. Die Autoren mussten wohl berücksichtigen, dass sie sich zuallererst an ein deutsches Publikum richten. Dies erklärt auch, warum sie zum Beispiel der Umsiedlung der deutschsprachigen Minderheit 1939 mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Exodus einer viel größeren Zahl von Esten 1944, die im estnischen Nationalgedächtnis eine wichtigere Rolle spielt.
Im Allgemeinen ist das Werk vorbildlich geschrieben. Beide Autoren demonstrieren über die gesamte Darstellung hinweg ihre Fähigkeit zu einer verlässlichen und nüchternen Beurteilung von historischen Gegebenheiten. Das Resultat ist eine Geschichte der Stadt Tallinn, die für absehbare Zeit kaum überboten werden wird.
Anmerkung:
[1] Seppo Zetterberg: Viron historia, Helsinki 2007.
Kaarel Piirimäe