Friedrich Meinecke: Neue Briefe und Dokumente. Herausgegeben und bearbeitet von Gisela Bock und Gerhard A. Ritter (= Friedrich Meinecke. Werke; Bd. X), München: Oldenbourg 2012, 688 S., ISBN 978-3-486-70702-1, EUR 79,80
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Im Jahr 1979 kam unter dem Titel Brandenburg - Preußen - Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik der neunte und zugleich letzte Band der Werkausgabe Friedrich Meineckes auf den Markt. Das Interesse an Meinecke erschien nicht nur von Verlagsseite aus als zu gering, um die Reihe fortzusetzen. Meinecke galt besonders den Vertretern der Sozialgeschichte als verknöcherter Inbegriff ihres Lieblingsgegners, des Historismus, und einer als endgültig überwunden empfundenen Form der Ideengeschichte. Inzwischen haben neuere Forschungen, wie sie etwa in dem von Gisela Bock und Daniel Schönpflug herausgegebenen Band Friedrich Meinecke in seiner Zeit (2006) zu finden sind, dieses Bild relativiert und von seinen pejorativen Zügen befreit. Gleichwohl lässt sich keine allgemeine "Meinecke-Renaissance" feststellen, und es muss fraglich bleiben, ob von Meineckes Forschungen inhaltliche oder methodische Impulse für die Geschichtswissenschaft der Gegenwart ausgehen können. Lohnt es also, so muss man fragen, die Werkausgabe nach über dreißig Jahren Ruhepause mit einem Briefeband fortzusetzen?
Diese Frage muss gleich doppelt bejaht werden. Denn zum einen lässt die vorliegende neue Briefauswahl ebenso wie schon der von Gerhard A. Ritter edierte Band Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977 (2006) die Konturen einer eindrucksvollen Wissenschaftlerpersönlichkeit aufscheinen. Meinecke zeigt sich in diesen Briefen als überzeugter Verfechter der Res publica litteraria, deren zentrale demokratische Grundsätze wie das Recht auf Meinungsfreiheit, die Berufung auf Vernunft als zentraler Basis und den Respekt gegenüber Andersdenkenden, er wissenschaftlich wie auch politisch verfolgte. So ist es nicht nur bemerkenswert, dass sich unter den rund 100 Promovenden des Liberalen Naumannscher Prägung auch Sozialisten und Juden sowie Vertreter solcher (sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher) Theorieansätze befanden, die Meinecke für sein eigenes Schaffen stets ablehnte. Ein Fünftel seiner Schüler waren Frauen - eine enorme Zahl für einen Ordinarius seiner Generation! Dass Meinecke den offenen Austausch mit diesen Schülern und mit seinen Kollegen suchte, dass das Verhältnis dabei oft über das rein Wissenschaftliche hinausreichte, belegen die "Neuen Briefe". Sie zeigen den alten Meinecke zudem als politisch Verzweifelten, der 1941 konstatiert, "das Deutschland, das ich liebe, ist vergangen", und ein Jahr später den "Zusammenbruch des Dritten Reiches" zu "ersehnen" beginnt. Gleichwohl war Meinecke nach 1945 keineswegs resignativ, sondern versuchte trotz schwindender Schaffenskraft, den Aufbau einer demokratischen Wissenschaft (auch personell) mitzugestalten.
Der andere Grund, die neue Briefedition zu begrüßen, ist wissenschaftsgeschichtlicher bzw. -soziologischer Natur. Vor allem in seiner Korrespondenz mit den Verlagen Cotta und Oldenbourg, die Bock und Ritter als eigenständige Abteilung in ihrer Auswahl präsentieren, offenbart sich Meinecke als enorm einflussreicher Netzwerker. Zudem sind diese Konvolute wichtige Quellen für die Geschichte der "Historischen Reichskommission" und der "Historischen Zeitschrift" besonders für die Jahre nach 1933, die Ritter unter dem Titel "Friedrich Meinecke und der Oldenbourg Verlag" in der Einleitung des Bandes analysiert.
Gerade mit der Publikation dieser Bestände erweist sich die 523 Dokumente umfassende Sammlung der "Neuen Briefe" nicht nur als bloße Ergänzung der "Briefe", die 1962 als Band VI der "Werke" erschienen, sondern kann als Beitrag zu einem neuen Bild von Meinecke als Wissenschaftsorganisator und als Vorbereiter einer politisch-freiheitlichen Geschichtswissenschaft nach 1945 betrachtet werden. Gesichtet wurden für diese Briefauswahl knapp 900 Briefe, die Stefan Meineke für seine Biographie gesammelt hat, weitere rund 100 Briefe, die Meineke und Bock im Verlauf des Projekts fanden, rund 400 Dokumente aus dem Privatnachlass sowie Bestände aus dem Bayerischen Wirtschaftsarchiv. Aufgenommen wurden mit wenigen Ausnahmen nur Meineckes Briefe und ihre Anhänge, nicht aber Gegenbriefe der etwa 120 Adressaten. Da Meinecke eine intensive Korrespondenz mit engsten Familienangehörigen führte, erhält der Leser ebenfalls ein gewisses Bild des 'Privatmanns Meinecke'.
Überzeugen kann der Briefband auch in editorischer Hinsicht. Alle Dokumente sind ausführlich und sorgsam kommentiert, eine Einführung von Bock gibt einen biographischen Abriss mit besonderem Gewicht auf Meineckes politischer Haltung, ein detaillierter tabellarischer Lebenslauf zeichnet akribisch die entscheidenden Wegmarken des privaten und beruflichen Werdegangs nach. Der ausführliche Anhang enthält Übersichten der bei Meinecke entstandenen Promotionen und Habilitationen, der Archive mit Nachlassbeständen zu Meinecke, eine Auswahlbibliographie mit Werken und Sekundärliteratur sowie ein biographisches Personenregister.
Friedrich Meinecke ist als Ideenhistoriker, als Verfechter der historistischen, streng hermeneutischen Methode und als epigonaler Vertreter des Goethezeitalters heute sicherlich nur für einen kleinen Expertenkreis von Interesse. Dagegen verdient er als wissenschaftlicher wie politischer Liberaler von Format größere Aufmerksamkeit. Dass er sich selbst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als "Vernunftrepublikaner" bezeichnete, gereichte ihm zum Schaden. Denn bedeutende Teile der Meinecke-Rezeption werteten dies als mangelnde demokratische Überzeugung und unterstellten Meinecke - so etwa Immanuel Geiss - gar antijüdische Ressentiments und Formen politischer Anpassung während der NS-Zeit. Sowohl der Briefwechsel mit den emigrierten Schülern als auch die "Neuen Briefe" zeigen dagegen klare Formen dauerhaften aktiven Eintretens für liberale politische wie wissenschaftspolitische Ziele und relativieren auch die Zitatstellen, die Ausgangspunkt dafür waren, Meineckes politische Integrität in Frage zu stellen. So schrieb Meinecke am 21. Juni 1946 durchaus glaubwürdig an seinen Freund, den dänischen Historiker Aage Friis: "Sie kennen meine Gesinnung, - sie hat, was die Hauptsachen betraf, in den 12 Jahren nicht einen Augenblick geschwankt. Aber vielleicht haben Sie sich einmal gewundert, als ich Ihnen vor etwa 3 Jahren schrieb, dass ich auf einen günstigen Ausgang des Krieges hoffe. Jetzt kann ich sagen, weshalb! Ich stand mit den Männern des 20. Juli in Verkehr, insbesondere mit dem Generalobersten Beck, und hoffte damals auf eine Beseitigung Hitlers und Schaffung einer neuen verhandlungsfähigen Regierung".
Stefan Jordan