R. M. Douglas: Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München: C.H.Beck 2012, 560 S., 20 Abb., ISBN 978-3-406-62294-6, EUR 29,95
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Dass die Vertreibung der Deutschen nur in der machtpolitischen Ausnahmekonstellation möglich war, die Hitlers Krieg gegen Stalins Sowjetunion und die Westmächte gleichzeitig geschaffen hatte, ist offensichtlich. Aber welchen Stellenwert genau hatte der "nationalsozialistische Kontext" für den Entschluss der Alliierten zur Vertreibung? Und war das spätere Übel durch das frühere irgendwie zu rechtfertigen?
Beide Fragen sind bis heute wesentlich für die historische Selbstvergewisserung der Deutschen nach dem "ungeheuren Verlust" (Max Frisch) ihrer Jahrhunderte langen Präsenz im Osten Europas. Sie werden sich nach Ray M. Douglas' bahnbrechender Gesamtdarstellung der Vertreibung der Deutschen nicht mehr so diskutieren lassen wie zuvor. Zu viel neues, bisher teils wenig beachtetes Material und zu viele neue Gedanken breitet der aus Irland stammende, in den USA lehrende Historiker Douglas in seinem Buch aus.
Es ist ein Blick aus der Adlerperspektive der universalen Menschenrechte, der von weit oberhalb der alteingefahrenen Geleise binneneuropäischer Vertreibungsdiskurse auf das Geschehene schaut. Wie scharf und unbestechlich dieser Blick von oben ist, zeigt sich schon daran, dass sich seine Antworten auf beide Fragen mit überkommenen Argumentationsmustern ganz unterschiedlicher Provenienz stoßen.
In Bezug auf den "NS-Kontext" begegnet man mancherorts dem Einwand, so konkret sei dieser etwa im Potsdamer Protokoll doch als Vertreibungsbegründung gar nicht benannt worden, und viel wichtiger seien ohnehin ältere Vertreibungsgedanken im polnischen oder tschechischen Nationalismus gewesen. Nun kennt auch Douglas die Mythen des schon im 19. Jahrhundert entstandenen polnischen "Westgedankens" (mitsamt seiner Spekulationen zumindest auf Ostpreußen und Oberschlesien); und die Rolle des tschechischen Politikers Edward Beneš als Spiritus rector der Vertreibung der Sudentendeutschen wird von ihm sogar noch schwärzer gezeichnet als sie ohnehin schon war. Doch Douglas liefert in den 13 Kapiteln seiner überwiegend chronologisch gegliederten Erzählung auch zahlreiche Belege für jene Dimension des "NS-Kontexts", die für die Vertreibung der Deutschen eine der entscheidenden war: D.h. für den durch den Nationalsozialismus und seine Menschheitsverbrechen ausgelösten Verfall moralischer Grundsätze auch auf Seiten der demokratischen Westmächte. Douglas zeigt dies vor allem am Fall Großbritanniens auf, jenes Landes, dessen Politik die wichtigsten Weichen für die Akzeptanz der Vertreibung durch den Westen stellte.
Zwar hatte die in London im November 1943 eingesetzte "Interministerielle Kommission für den Transfer deutscher Bevölkerungsgruppen" durchaus Besorgnis geäußert hinsichtlich der humanitären und ökonomisch-sozialen Folgen einer Massenvertreibung der Deutschen. Doch konterte dies Clement Attlee, damals stellvertretender Premierminister, mit dem zentralen Argument: "Alles, was den Deutschen die Vollständigkeit und Unwiderruflichkeit ihrer Niederlage vor Augen hält, ist letztlich von Nutzen". Als Premierminister wurde Attlee 1945 dem Bischof von Chichester gegenüber noch deutlicher: Die Deutschen erführen mit der Vertreibung nur "die gerechte Strafe" für ihre Rolle im Krieg.
Nicht nur bei den wichtigsten Labour-Politikern, auch bei Churchill, der noch 1941 Zwangsumsiedlungen als Verstoß gegen die grundlegenden Prinzipien der Freiheit abgelehnt hatte, brach diese Haltung "unter dem Druck des totalen Krieges rasch zusammen". Der britische Botschafter in Warschau brachte es im Herbst 1945 gegenüber Deutschen in Oberschlesien, die über ihre Behandlung durch Polen klagten, auf den Punkt: "Wer hat den Krieg angefangen, wer hat Konzentrationslager und Auschwitz gebaut?"
Ähnlich äußerte sich ein britischer Polenspezialist im Foreign Office, der 1947 mit den Misshandlungen von Deutschen im polnischen Internierungslagers Potulitz konfrontiert worden war: Nachdem er vorher in den ehemaligen NS-Vernichtungslagern Majdanek und Auschwitz mit eigenen Augen 800 000 Paar Schuhe von Ermordeten gesehen habe, könne er "nicht viel Mitgefühl für die armen Deutschen entwickeln", obwohl er ihre Behandlung ablehne.
So klar Douglas das Gewicht des "NS-Kontextes" herausarbeitet und so eindeutig er die Unterschiede zwischen der Vertreibung der Deutschen und der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen Juden, Russen oder Polen benennt, so entschieden lehnt er es ab, daraus zu schließen, "die Vertreibungen seien unabwendbar, notwendig oder gerechtfertigt gewesen". Bei massenhaften Menschenrechtsverletzungen in der jüngeren Geschichte sei schließlich auch "in keinem anderen Fall das Argument verwendet worden, man solle sie nicht zur Sprache bringen, aus Furcht, dies könne den Schrecken verkleinern, den man angesichts eines noch größeren Verbrechens zu Recht empfindet". Die zur Stützung dieses Argumentes oft bemühten Thesen lässt Douglas sämtlich nicht gelten. Zum einen stimme es nicht, dass der Hass auf die Deutschen eine radikale Trennung unvermeidlich habe werden lassen. Von wenigen Ausnahmen wie in Prag im Mai 1945 abgesehen sei es nach der Kapitulation "praktisch nirgends zu spontanen Gewalttaten gegen Deutsche gekommen". Vielmehr macht Douglas deutlich, dass Gewalt und Terror während der Vertreibung größtenteils auf das Konto bewaffneter Staatsorgane gingen, die auf Befehl von oben handelten.
Auch die These von einer legitimen Kollektivbestrafung der vertriebenen (Ost-)Deutschen weist Douglas zurück. So trügen etwa viele Slowaken kaum weniger Verantwortung für die Zerstörung der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen als die Sudetendeutschen; und auch Menschen in vielen anderen Ländern hätten während des Zweiten Weltkriegs versucht, "nicht aufzufallen", ohne dass das wie bei den Ostdeutschen nach 1945 dann zum "passiven Kriegsverbrechen" erklärt worden sei. Obendrein sei die Annahme, dass die (Mit)Schuld der ausweisenden Staaten für schwere Menschenrechtsverletzungen durch den vorherigen Opferstatus von Tätern aufgehoben werde, nicht "mit irgendeinem bedeutungsvollen Konzept von Menschenrechten zu versöhnen".
So sehr Douglas' prinzipielles Plädoyer gegen Vertreibungen als Mittel der internationalen Politik überzeugt, so wenig lassen sich einige Mängel des Buches übersehen. Wesentliche Argumentationsfiguren des Buches verdanken sich offensichtlich dem Umstand, dass der Verfasser nicht schon seit 20 Jahren ausschließlich zum Thema Vertreibung forscht; dem sind auch schwächere Partien nebst kleineren Fehlern geschuldet. Etwa wenn zu lesen ist, die - nach wie vor dem Bundestag angehörende - Präsidentin des Bundes der Vertriebenen habe sich im September 2010 "aus der aktiven Politik" zurückgezogen. Und während der Verzicht auf die Einbeziehung von Zeitzeugenberichten aus der einschlägigen Schieder-Dokumentation der 1950er Jahre sich mit der argumentativen Logik der Studie begründen lässt, so gilt dies für die Nicht-Nutzung anderer deutscher Archivbestände (auch solcher aus der ehemaligen DDR) schon weniger.
Die bereits andernorts aufgezeigten Monita [1] schmälern aber nicht die Bedeutung des Buches insgesamt; zu sehr beeindruckt die konsequent menschenrechtliche Perspektive des Verfassers. Besonders berührt, wie Douglas etwa auch den jüngsten Opfern in seinem Kapitel über die Kinder ein literarisches Denkmal setzt. Vertreibungen, so die unmissverständliche Quintessenz, sind nicht praktikabel, "wenn sie nicht schnell durchgeführt werden, [...] und wenn sie schnell durchgeführt werden, sind sie nicht human."
Anmerkung:
[1] Michael Schwartz: Ein Tabu löst sich auf. Die Vertreibung der Deutschen wird durch den amerikanischen Historiker R.M. Douglas neu beleuchtet, in: DIE ZEIT, 6. Juni 2012, (Nr. 24), 57.
Manfred Kittel